Zum Inhalt springen
Startseite » Texte » Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser?

Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser?

Ertrinken


Zum Glück hat der Seitenspiegel einen Klappmechanismus, einen Schutzmechanismus für weniger gute Autofahrerinnen und Autofahrer, armer Seitenspiegel, Entschuldigung Mama. Mein Tankdeckel ist auf der Fahrerseite. Ich stoße an die Ecke der Tanksäule, als ich mich möglichst nah an die Zapfhähne stellen will. Alle die mich kennen wissen, dass Autofahren nicht meine Stärke ist. Banalität kann so kompliziert sein. Ich kann kaum atmen, während ich zwischen Säule und Auto den ölfressenden Kapitalismus durch das Getriebe pumpe. „Hey Chrissi“. Ich lasse vor Schreck fast den Schlauch fallen, 10 Liter reichen, schreit mein Geldbeutel, ich drehe mich um und sehe eine Freundin, winkend, lachend. Sie läuft auf mich zu, ich hänge vorsichtig den Zapfhahn zurück und schiebe die Sonnenbrille aus meinem Gesicht. Ich freue mich nicht sie zu sehen. Während ich das denke, befinde ich mich schon in einer Umarmung, dessen Wärme nicht zu mir durchdringt. „Schön, dass du wieder da bist.“ Ich kann sie nicht anschauen. Ich bin nicht da. Sie streicht mir über die Wangen, von den ganzen Nachtbusfahrten und Hostelbetten von der fremden Einsamkeit und der rastlosen Unruhe, von dem zu wenig Schlaf und zu viel Stress ist meine Haut unrein, meine Haare sind lebloser als abgestorbenes Gewebe aussehen kann, mein Gesicht ist fahl irgendwie, ich bin nicht hier. „Wie geht’s dir denn?“ Ich schlucke. Als ich in ihre Augen schaue, kommen mir die Tränen. Ich blockiere Zapfsäule Nummer Drei, sehe aber elend genug aus, als dass sich jemand darüber beschweren würde. „Du siehst aus, als gehörst du auf meine Couch“, sagt sie und streichelt mir über den Arm. Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ Ich bohre meine Fingernägel in die dünne Haut meines Unterarms. „Gib dir Zeit anzukommen“, sagt sie mit sanfter Stimme und streicht mir über die Arme. Ich nicke und wische mir die Tränen aus den Augen. Ein Wasserfall aus Gefühlen. Warum bist du nur so traurig, sagt meine Mutter eben. <strong>Weil ich hier bin, ohne hier zu sein, Mama. Und weil sich alles verschoben hat. Weil ich verschoben bin. Und weil ich nicht weiß, in welche Richtung ich gehen soll.

Fremd

Nicht schreiben ist auch keine Möglichkeit, hat Cheryl Strayed mal gesagt, als sie über Schreibblockaden gesprochen hat. Ich habe eine Schreibblockade. Gestern saß ich zwei Stunden vor einem leeren Dokument, ohne ein einziges Wort zu formulieren. Meine Schreibblockade hat so ein großes Netz über mein Leben gespannt, dass ich nicht mal Tagebuch schreiben kann. Ich fühle mich fremd in meinem Körper und in meinem Kopf. Ich wache morgens auf, und ich bin traurig. Ich sehe die Sonne und denke, es könnte auch regnen, ich esse mein Lieblingsessen und denke, es könnte auch Reis mit Reis sein. Ich gehe mit meinem Hund spazieren und weine, ich fahre Auto und weine, ich lese Bücher und weine. Ich fühle mich so zerbrechlich, wie ich mich seit Jahren nicht mehr gefühlt habe. Und ich möchte mit niemandem reden. Die Kommunikation zwischen mir und meinem Umfeld beschränkt sich auf das Allerwesentlichste, meine Freundinnen müssen mich aus dem Haus zwingen, Anrufe ignoriere ich und wenn ich im Supermarkt ein bekanntes Gesicht sehe, verstecke ich mich zwischen Konservendosen. Ich bin nicht traurig, ich bin verzweifelt. Ich bin verzweifelt und ich bin so wahnsinnig wütend. Ich bin so wütend, dass sich mein 13jähriges pubertierendes Ich meldet, sich den Finger in den Hals stecken und so lange kotzen will, bis die Welt ein besserer Ort ist. Ich bin 23 und weiß, dass es für Selbstverletzung keine Essstörungen braucht. Ich mache mit meinem Freund Schluss, obwohl ich ihn sehr liebe, aus Frust und Trotz und weil er die Welt auch nicht rettet, meine verklärt utopische Freiheitsliebe, die Revolution und Matriarchat schmecken will, isoliert mich von den Menschen die mir gut tun, weil sie Sicherheit verteufelt und das System hasst. Ich färbe mir die Haare schwarz und beklebe meine Wände. Ich will mein Kinderzimmer verschwinden sehen. Ich bin so wütend. Mit Edding schmiere ich Wortfetzen auf die Holzlatten, die mich so viele schlaflose Jugendnächte angestarrt haben, die mich beobachtet haben, wie ich aufgewachsen bin und zu dem Bild eines perfekten Mädchens wurde, das nichts will, außer Ausbrechen. Ich bin so wütend. Und ich kann mit niemandem über diese Wut reden, weil ich sie gedanklich nicht greifen kann und weil sie mich emotional auffrisst, bevor ich sie mir zum Fraß vornehme. Ich bin fremdbestimmt von Gefühlen, die mich nicht ein-, sondern überholen. Meine Gefühle sind weiter als ich – ich stecke im Verarbeitungsstau und manchmal wünsche ich mir, ich hätte die letzten Monate nur geträumt, weil sie angestoßen haben, was ich nicht halten kann.

Fremder

Ich liege auf meinem Bett, die Wand und ich liefern und ein Blickduell, das für immer dauert. Die Zeit zwischen 20 und 30 ist skurril. Sie ist abstrus. Sie ist angsteinflößend. Und irgendwie ändert sich alles. Ich habe Freundinnen, die Häuser kaufen, die jetzt ein ‚wir‘ sind und über Fernsprechanalagen und Einbauküchen reden. Die Versicherungen zusammenlegen und in die Rentenkasse einzahlen. Ich habe Freunde, bei denen jeden Monat das Geld nicht reicht, weil sie zu gerne feiern gehen und zu viel Bier trinken. Die im 12. Semester Bachelor studieren und es geil finden. Ich habe monogame Freunde und welche, die mit fünf Menschen gleichzeitig schlafen. <strong>Mein Umfeld ist bi und queer und trans, arm und reich, glücklich und unglücklich, drogenabhängig und vegan, schwanger und abtreibend. Und ich bin irgendwo dazwischen. Ich fühle mich überall zugehörig und nirgends, ich tauche gerne in all die Realitäten ein, finde mich aber in keiner langfristig wieder. Ich bin verloren. Und langsam bin ich zu alt dafür, nicht zu wissen, wo ich hingehöre. Ich schwimme, ich schwimme noch immer. Überall Menschen und niemand, der mich rettet.

Ich habe fast das komplette letzte Jahr irgendwo verbracht, zwischen Schlafsack und hello my name is Chrissi. Ich bin so viel herumgekommen, dass ich es manchmal selbst nicht glaube und wenn ich zurückblicke, dann kann ich mir schwer vorstellen, dass ich das wirklich erlebt habe. Ich bin eine Reisende geworden. Reisen ist wundervoll, ich muss all die Fürs nicht aufzählen, Reisen schmeckt so süß, dass die geschmackliche Erzählung nur eine Fälschung wäre. Aber Reisen macht auch rastlos. Ich bin so rastlos. Mich zieht es nach Berlin, weg von hier, von dem Dorf, in dem ich irgendwie anders bin. Ich falle negativ auf, als würde meine Weltwut strahlen. Ich bin Tschernobyl und ich kann hier nicht bleiben. Ich will nach Berlin, weil die Stadt mein zu Hause ist, weil dort meine Herzensfamilie lebt. Und weil man sich so gut verlieren kann. Berlin betäubt. In Berlin wird meine Wut geteilt und mein Frust und meine Verzweiflung. In Berlin schüttelt niemand den Kopf, wenn ich nach dem Sinn des Lebens frage, und es ernst meine, weil ich ihn nicht sehe, in einem 9-5 Job und dem ersten Kind mit Ende 20. In Berlin kann ich aufgefangen werden, weil ich mich nicht erklären muss. Warum bist du nur so traurig, sagt meine Mama. Kann ich nicht erklären. Vielleicht sollte ich endlich anfangen.

Ich habe gestern bei meiner Kinderpsychologin angerufen. Die Frau hat mir schon mal eingeimpft, dass es einen Sinn gibt. Und dass ich okay bin, mit all meiner andersartigen Wut. „Hallo Christina“. Ich bin ganz aufgeregt, wir reden übers Leben, „könnte ich vorbeikommen?“ Sie fragt nach meinem Alter. 23. Tut mir leid. Ich darf nur bis 21 behandeln. Vielleicht sehen wir uns ja mal im Supermarkt, sage ich, und weiß, dass mein Platz dann hinter den Konserven sein wird. Ich bin zu alt für vertraute psychologische Begleitung und zu kurz hier, um mich dem bürokratischen Krankenkassenwahnsinn einer neuen Therapie zu stellen. Kein Problem, ich muss mich einfach meinen Freundinnen öffnen. Und zu allererst mir selbst.

Warum bist du so wütend?

Ich trommele mit den Fingern auf die Tischplatte. Es macht mich wütend, dass ich meine Wut nicht verstehe. Ich bin wütend auf alles, sage ich laut. Und dann denke ich zum ersten Mal ganz bewusst an die Zeit in der Türkei.

Ich denke an Yasmin, Mutea und Yusuf und ihr eiskaltes Steinhaus. Ich denke an Rama und Hamsa und ihre Gehbehinderung. Ich denke an die 12 Menschen, die vor drei Tagen an der Küste in Cesme ertrunken sind, als sie nach Griechenland übersetzen wollten. Ich denke an all die Tausenden, die schon tot sind und an die, die noch sterben werden. Ich denke an die überfüllten Lager in Griechenland, ich denke an Kosta, „es wird immer schlimmer“, ich denke an die Militäroffensive in Nordsyrien und an all die Kinderaugen, in die ich in den letzten Monaten geschaut habe. Ich bin so wütend. Und dann komme ich her, in das neoliberale Konsumparadies, „lass uns Kaffee trinken gehen und Schuhe kaufen, dann geht’s dir bestimmt besser.“ Ich mache verbitterte Kommentare. „Weißt du wie viele andere Menschen auch Schuhe brauchen? Und überhaupt, wir haben doch Schuhe.“ Nichts und alles. Ich fühle mich falsch hier. Ich möchte hier nicht sein. Ich kann nachts nicht gut schlafen und ich bin tagsüber schläfrig. Ich will aktiv sein, aber ich fühle mich zu alleine, um der massiven Bipolarität unserer Welt zu begegnen. Die Welt hat sich aufgebäumt, wie eine schwarze Wolke sauren Regens, geblasen aus Macht und Unterdrückung, ich bin stärker als du. Ich fühle mich ohnmächtig. Ich kann mich nicht mehr richtig an die Stimme von Sheyha erinnern, ich weiß nicht mehr, welche Augenfarbe Rashed hat und ich verpasse die Entwicklung der Kinder. Sind sie überhaupt noch da? Wenn sich die (inter)nationalen Flüchtlingsbestimmungen oder der EU-Türkei-Pakt ändert, dann kann es sein, dass meine syrische Herzensfamilie gehen muss. Während ich Kaffee trinke und Schuhe kaufe. Das ist pervers. Das ist schrecklich. Das macht mich so wütend. „Du hast doch schon so viel gemacht“, höre ich meine Mutter sagen. Nicht genug, Mama. Es ist nicht genug, sich ein paar Wochen in die Nähe eines Krisenherdes zu begeben und dann wieder zu gehen, den Vorhang der dunklen Realität zu schließen, weil sie unbequem ist, und weiterzumachen, wie zuvor. Ich will keine Krisentouristin sein.

Ich bin so wütend. Und ich bin noch nicht so weit, dass sich meine ohnmächtige Wut in produktiven Aktivismus verwandelt. Meine Wut auf die Welt richtet sich gegen mich, weil sie Fläche braucht, um sich auszuleben. Ich kämpfe mit meiner Wut und es ist so anstrengend. Es ist anstrengend, nicht erklären zu können, warum man den ganzen Tag weint und sich verhält, wie sein 13jähriges Ich. Es ist anstrengend, Entscheidungen aus einer Wut heraus zu treffen, die einen eigentlich unmündig macht. Früher hätte ich die Fassade des perfekten Mädchens aufrechterhalten. Schön dich zu sehen, mir geht’s gut, ja, ich bin auch froh, wieder hier zu sein. Perfektion und Schönheit stützen das System, perfekt-schöne Menschen funktionieren, sie müssen nicht denken, weil sie ihr Leben der Tatsache widmen, möglichst flächendeckend geliebt zu werden, anstatt zu tun, was sie lieben. Liebe ist ungemütlich und nur rosarot, wenn sie verklärt ist. Wenn wir uns lieben und unser Umfeld, und die Welt in der wir leben, dann müssen wir etwas verändern.

Ich will nicht stumm und Schuhe kaufend zusehen, wie das nächste Schlauchboot untergeht und die ausgehöhlte Demokratie Menschen mundtot macht und alles schlimmer wird, ohne, dass wir es mitbekommen. Ich kann die Nachrichten nicht mehr ausschalten, weil sie Standbilder in meinem Kopf sind, die mich spätestens dann einholen, wenn ich sie am Liebsten verdrängen will.

Ich weiß nicht genau wie, aber ich weiß, dass sich etwas ändern muss. Und dass wir aufhören müssen blind in der kranken Membran unseres prosperierenden Mikrokosmos zu schweben. So viele Menschen schwimmen. Menschen sind nicht intelligent, sondern frei, oder eben nicht, würde Satre sagen. Es ist die Verantwortung der Freiheit das zu tun, was wir für richtig und wichtig halten. Meine Prioritäten haben sich verschoben. Vielleicht muss ich meine Realität verschieben. Und vielleicht muss ich mir Menschen suchen, denen es ähnlich geht. Vielleicht wird meine Wut dann kleiner. Und vielleicht kann ich dann endlich zu Hause ankommen. Oder ankommen.

Foto: Unsplash