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Im Coronajungle

Scheiße, ich bin ein Verdachtsfall


„Wem muss ich denn alles Bescheid geben?“„Niemandem. Machen Sie am Montag erstmal den Test und dann kümmert sich das Gesundheitsamt um Ihre Kontaktpersonen.“ Ich nicke. „Und machen Sie sich keine Sorgen. Gute Besserung.“ Mir geht es nicht schlecht, will ich noch sagen. Ich bin symptomfrei. Aber da hat der Bereitschaftsarzt der Coronavirus-Hotline schon aufgelegt. Und jetzt sitze ich hier, mit Fieberthermometer im Mund, auf die erhöhte Temperatur wartend. Gestern habe ich noch Witze über Knutschverbot gemacht, heute bin ich ein Verdachtsfall.

Willkommen in meiner häuslichen Quarantäne

Mein Telefon klingelt ununterbrochen. Wie wahrscheinlich es denn sei, dass ich infiziert bin. Ich weiß es nicht, sage ich immer wieder. Weil ich vor wenigen Tagen noch eine Lesung gehalten habe, möchte ich auf diesem Wege meine Situation transparent machen und über das Coronavirus aufklären. Ich arbeite in einer Redaktion. Vor elf Tagen habe ich dort Person X die Hand geschüttelt. Person X meldete sich am darauffolgenden Tag krank. Heute klingelt das Redaktionstelefon – Person X ist positiv auf das Coronavirus getestet worden. Kontaktpersonen von X, zu denen ich zähle, wurden sofort nach Hause geschickt. Wir stehen jetzt alle vor der Frage: Test, ja oder nein? Die Gesundheitsbehörden sind überlastet. Ich hing vier Stunden in der Warteschleife des Gesundheitsamtes. Die Testkits sind knapp. Ich habe Person X nur die Hand geschüttelt, das stimmt. In einem Großraumbüro teilt man Lichtschalter und Türklinken. Bin ich übervorsichtig? Ich fühle mich nicht krank. Aber ich denke an meine Oma und an meine Kontaktpersonen, die auch Großeltern haben. Ich weiß, dass die Ansteckungsgefahr hoch ist, dass es sowohl eine Tröpfchen, als auch eine Schmierinfektion ist. Ich weiß, dass Symptome auch bei infizierten Menschen nicht auftreten müssen und mir ist die lange Inkubationszeit von bis zu 14 Tagen bewusst. Für mich ist das Virus nicht gefährlich. Ich bin jung und fit. <strong>Corona durchwandert die Gesellschaft aber immer weiter, nistet sich in jedes Subsystem ein und zerfrisst es dabei von innen. Ich denke an Angi und Jens: „Soziale Kontakte so gut es geht vermeiden, wir sind alle betroffen, jeder muss helfen, das Virus einzudämmen, wir brauchen Zeit.“ Die Zeit, die Gesundheitssystem und Pharmaindustrie nicht haben, habe ich nun doppelt. Und ich möchte sie nutzen, um über das Virus aufzuklären und auf Aspekte aufmerksam zu machen, die ich in den Medien als unterrepräsentiert wahrnehme. Liebe Kontaktpersonen, und solche die denken sie wären es: Sobald ich meine Testergebnisse habe, teile ich das mit. So lange höre ich die ‚sickeste playlist‘ auf Spotify und schwelge zwischen „Hurra die Welt geht unter“ und „I’m Alive“ im apokalyptischen Endzeitfieber – mein Thermometer zeigt immer noch 36,7 Grad.

Eine wirklich kurze Übersicht

Man geht verloren im Coronajungle. Es gibt mehr Informationen als Infizierte, das Virus ist in aller Munde und in einigen wenigen unteren Atemwegen. In Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut (RKI) aktuell 3062 Fälle bestätigt. Die Zahl der Neuinfektionen steigt exponentiell, die Wochenzeitung ‚Zeit‘ bezieht sich auf ‚eigene Quellen‘ und meldet über 4000 Infektionen. In Deutschland sind acht Menschen an dem Virus gestorben. Alle gehörten zur Risikogruppe „alter Mensch“. Die Dunkelziffer der Infektionen muss wahnsinnig hoch sein, denn die meisten Verdachtsfälle werden nicht einmal getestet. Es gibt zu wenige Teststationen, die medizinischen Mittel reichen nicht aus und die Räumlichkeiten fehlen. Weltweit wurden rund 140.000 Fälle bestätigt. Vergangene Woche hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Virus zur Pandemie erklärt, also einer globalen Seuche. „Scheiß Corona, nervt mich total“, habe ich kürzlich öfter zu meinen Freunden gesagt. Die Omnipräsenz mag nerven, aber sie ist wichtig, um uns für das Ausmaß zu sensibilisieren. Wir können das Virus nicht ausblenden. Und wir dürfen es auch nicht. Wir sind in einer Extremsituation, die es schon sehr lange nicht mehr gegeben hat. Und wir müssen uns jetzt alle damit auseinandersetzen. Um unsere Gesellschaft zusammenzuhalten und zu schützen. Es ist kein Scherz, wenn empfohlen wird, soziale Kontakte einzuschränken und den öffentlichen Nahverkehr zu meiden. In mehreren europäischen Ländern gilt bereits eine Ausgangssperre. Grenzen sind abgeriegelt und Orte des öffentlichen Lebens geschlossen. Das alles passiert, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. „Wir kriegen es sowieso alle“ ist kein Argument, sich diesen Empfehlungen entgegenzusetzen und als potenziell herumwandernder Infektionsherd Andere zu gefährden. Nicht der Krankheitsverlauf macht das Virus so gefährlich, sondern die nicht absehbaren Auswirkungen auf das Gesundheitssystem. In Italien, dem in Europa am stärksten betroffenen Land, müssen Ärzte mittlerweile entscheiden, wer noch behandelt wird, und wer nicht, weil Beatmungsgeräte und Betten zur Neige gehen. Das muss bei uns nicht passieren und nicht jedes Halskratzen deutet auf eine Infektion hin. Um medizinische Behörden nicht zusätzlich zu überlasten, sollten sich nur die Menschen testen lassen, die in einem Risikogebiet waren, oder Kontakt zu einer infizierten Person hatten. Wer sich unsicher ist, kann die Corona-Hotline anrufen (116117). Trotzdem: Kontaktketten lassen sich schon jetzt nicht mehr ausfindig machen. Jeder Einkaufswagen ist eine potenzielle Corona-Einladung. Das Virus wandert von den Städten in die Dörfer. Deshalb ist es so wichtig, sämtliche Hygienemaßnahmen einzuhalten und zu Hause zu bleiben, wenn man sich kränklich fühlt. Eine Armlänge Abstand bekommt endlich eine Berechtigung. Und seid ehrlich zueinander. Niemand hat sich das ausgesucht, weil es gerade Trend ist. Ich muss grinsen, während ich das schreibe. Ja, es ist tatsächlich leichter, am Telefon über die Ansteckung einer Geschlechtskrankheit zu informieren – für einen Herpes kann man genauso wenig – als über Corona. Aber warum ist das so?

Wenn das System uns den Alltag klaut

Um die große Kollektiv-Angst zu verstehen, kann man bei den Hamsterkäufen anfangen. Also denke ich. Warum machen Menschen das? Und warum Toilettenpapier? Extremsituationen offenbaren die Abgründe der Menschheit – Egoismus als Endgegner der Pandemie. Hauptsache ich bin versorgt. Mit hundert Rollen kann die Apokalypse kommen. Ich wehre mich mit einem Kanonenfeuer aus Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken, während ich in Nudeln bade. Corona kann mir gar nichts. Ich, ich, ich. So funktioniert das aber nicht. Dieses Ding, Gemeinschaft. Ich glaube, dass die Angst vor Corona der Angst vor Unbekanntem gleichkommt. Wir sehen Corona als Bedrohung, als Bedrohungsberg, weil wir die Folgen nicht abschätzen können. Und vor allem, weil unser System hakt. Unser System hat Corona und deshalb sind unsere Köpfe damit infiziert und wir haben es irgendwie alle, trotz niedriger Fallzahlen. Das System, das uns ansonsten so wunderbar und Tag für Tag vorgibt, wie wir unseren Alltag zu strukturieren haben, dass für uns denkt und handelt, dieses System bricht auseinander. Alexa hat Corona und Siri hat Corona und keine der beiden Damen kann einen Abstrich unseres Rachens vornehmen. Zwangsurlaub und Corona-Ferien machen Platz für Selbstzentrierung. Das ist gefährlich. Möglicherweise erkennen wir unsere Tätigkeit als Handlanger des Systems, als mechanischer Roboter, der lebt, um zu arbeiten und irgendetwas zu müssen. Corona stürzt uns in ein Loch, in dem wir uns mit uns selbst auseinandersetzen müssen. Und das bestenfalls in häuslicher Quarantäne. Und Alexa misst nicht einmal Fieber.

Menschen sind Gewohnheitstiere. Wir brauchen Routine, um uns sicher zu fühlen. Routine ist nicht nur der Arbeitsalltag, sondern auch der Stadionbesuch am Samstag, oder der Käsekuchen bei Mutti am Sonntag, oder das Feierabendbier im Pub an allen anderen Tagen. Corona nimmt uns sämtliche Gewohnheiten und lässt uns im Stich, mit uns selbst. Wir können das aushalten. Wir haben Zugang zu Medikamenten und Hygieneartikeln. Bei zwei von fünf Menschen auf dieser Welt ist das anders. Wenn Corona den afrikanischen Kontinent erreicht – was bereits geschehen ist, 21 Länder meldeten erste, eingeschleppte Infektionsfälle – dann wartet eine humanitäre Katastrophe. Ebola 2.0, nur krasser. Mit Ausbruch des Virus ändert sich unser Bezugsrahmen. Der ist nicht mehr mikrokosmisch unsere Familie oder unser Kiez – Corona macht die Welt zu einer neuen Bezugsgröße und führt uns vor Augen, wie wenig Macht der Mensch eigentlich hat, auch wenn er es denkt. Sars-CoV-2 frisst sich in diesem Moment durch das Wirtschaftssystem, der Handel an der amerikanischen Börse wurde in dieser Woche zwei Mal für 15 Minuten unterbrochen, der DAX fällt auf unter 10.000 Punkte. Corona macht uns im großen Stil bewusst, dass alles im Leben Wechselwirkung ist und zeigt, wie sehr unsere Systeme ineinander verwoben sind. Und wir ins System.

Alles passiert für einen Grund und alles ist für irgendetwas gut, davon bin ich überzeugt. Und so muss das auch mit Corona sein. Während ich mich in häuslicher Quarantäne übe, werde ich also über die positiven Seiten des Virus nachdenken und auch meine wahnsinnig un-journalistischen Verschwörungstheorien mit euch teilen. &#160;Außerdem möchte ich über ein Thema schreiben, das in der Nachrichtenflut untergeht: Über Obdachlose und Geflüchtete in Corona-Zeiten, die das Gesundheitssystem nicht als Risikogruppe eingestuft hat. Ich sehe das ganz anders.

Bleibt gesund und munter, und knutscht nicht so viel. Bussi aus der Ferne.

Foto: Unsplash