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Denken und Handeln

Denken und Handeln


Der Corona-Pandemie mag man einige positive Dinge abgewinnen können – auf den ersten Blick scheint die Generation Greta, zu der wir uns wohl auch zählen lassen, ihrem Klimaziel näher denn je. Familien rücken enger zusammen und der Digitalisierung sitzt der Fortschritt im Nacken. Menschen nehmen wieder mehr Rücksicht aufeinander, nachbarschaftliche Allianzen entstehen und das deutsche Gesundheitssystem kann mit Intubation für alle punkten. Ich kann mich nur schwer an all den Dingen erfreuen. Immer wenn ich darüber nachdenke, erfüllt mich die aktuelle Weltgesundheitssituation mit sorgenvoller Fassungslosigkeit. Weltweit sind über 24 Millionen Menschen an Covid-19 erkrankt, fast 820.000 gestorben, und jede Stunde werden es mehr. Auch wenn es in der Berliner Hasenheide und auf dem mallorcinischen Ballermann keine Viren zu geben scheint – sie sind da, überall – und unterbewusst verändert sie uns als gesamte Gesellschaft. Die wirtschaftlichen Folgen werden noch am Sandkastenspielzeug meiner Kinder kleben und ein „Vor-Corona“ wird es wohl nie wieder geben. Die Pandemie pustet eine Schicht Schwermut über die Erde und während in Lateinamerika Massengräber ausgehoben werden, demonstrieren in Stuttgart Menschen gegen „Merkels Maulkorb“. Russland hat vor zwei Wochen den weltweit ersten Impfstoff zugelassen. Es widert mich an, wie Putin grinsend verkündete, eben diesen Impfstoff auch seiner Tochter verabreicht zu haben – der Impfstoff, der die wichtige Testphase 3 einfach nicht durchlaufen hat. Ich frage mich, wie es sein kann, dass Machtgier sich vor Gesundheitshilfe drängelt und die Weltgemeinschaft zuschaut.

Wir müssen nicht mit dem Finger auf Russland zeigen – abstruse Gedankenkarusselle drehen sich überall auf dem Planeten. Die Verschwörungstheoretiker sitzen dabei in der Gondel. Attilla Hildmann kocht nicht mehr vegan, sondern giftig und Ken Jebsen frisst ihm aus der Hand. Das ist die große Gefahr einer Demokratie: Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und der Grat zwischen Meinung und Manipulation ist manchmal sehr schmal. Ich frage mich manchmal, ob Menschen, die aus Angst, nicht aus Boshaftigkeit Opfer jener Verschwörungstheoretiker werden, sich eben dieser Manipulation bewusst sind. Meinung braucht Aufklärung und Manipulation braucht das auch. Mir macht es Angst, dass sich Menschen, weil sie es wohlmöglich nicht besser wissen, mit dem toxischen Gedankengut dieser Menschen verbinden und unsere Gesellschaft, die gerade jetzt starken Zusammenhalt braucht, von innen zerfressen.

Wenn die kleine Minderheit so laut ist, dass sie die große Mehrheit übertönt, sie zum Schweigen bringt und auf diese Weise langsam zur Mehrheit wird, dann ist das nicht blöd gelaufen, sondern gefährlich für eine Demokratie. Freie Fahrt den lauten Demagogen. Elisabeth Noelle-Neumann, eine Kommunikationswissenschaftlerin, die mich in der Universität viel begleitete, gab diesem Prozess in den 50er Jahren einen Namen. Schweigespirale. Ich habe Angst, dass wir im Schweigespiralen-Karussell versinken, weil wir denken, alternativlos zu sein und deshalb leise sind, und weil wir auch Angst vor dem Unbekannten haben und Verschwörungstheorien solch eine wundervolle Projektionsfläche für all unsere ungeklärten Gefühle sind. Ich wünsche mir, dass wir aktiv nachdenken, bevor wir passiv glauben. Die Empörungskultur muss sich auch mal ausruhen, um Platz für Fakten und Rationalität zu machen. Warum sollte Bill Gates ein Interesse daran haben, uns alle zu chipen? Weltherrschaft und Weltgesundheit sind nicht synonym zu denken. Ohne Bill Gates und seine Frau Melinda könnte die WHO wohl nicht so breitflächig an einem Malaria Impfstoff forschen. An Malaria sterben jedes Jahr über 400.000 Menschen. Und auch 5G ist nicht schuld am Corona-Virus. Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, warum Fledermäuse auf Wochenmärkten gehandelt werden. Vielleicht sollten wir die Ausbeutung der Natur und unseren persönlichen Konsum reflektieren, bevor wir Schuldzuweisungen treffen – auch wenn das keinen Spaß macht und ungemütlich ist. Lieber Attila, lieber Ken, lieber Xavier und alle Lieben, die ihren Frust und ihre Handlungsunfähigkeit an der Regierung und den Medien abarbeiten: Wir geraten ins Ungleichgewicht, wenn wir unsere Natur verändern. Und Krankheitserreger tun das auch. Corona war nicht die erste Pandemie und Corona wird auch nicht die letzte Pandemie sein. Aber wir können gemeinsam dafür sorgen, dass sie nicht in die Schuhe der spanischen Grippe fällt. Dort liegt nämlich kein Mund-Nasen-Schutz.

Mach dich handlungsfähig

Ich möchte nicht primär über die Corona-Pandemie schreiben. Ich möchte sie auch nicht politisch instrumentalisieren oder über die humanitären Katastrophen berichten, die sie anrichtet. Aber sie muss erwähnt werden und der gesellschaftliche Umgang mit ihr kritisiert, weil Aerosole nicht wegfliegen, wenn wir sie darum bitten. Ich möchte über eine positive Erfahrung berichten, die ich mit dem Virus gemacht habe. Corona steht in meinem Alltag synonym für „Zeit geschenkt bekommen“ – positiv formuliert. Das Virus hat mir alle Pläne der letzten Monate zerstört und mich viel Geld und Tränen gekostet. Damit gehöre ich zu der Mehrzahl der Menschen weltweit – das ist doch auch mal schön. Geschenkte Zeit kann lähmen, weil sie überfordert und zu Prokastination einlädt, das kenne ich auch sehr gut. Geschenkte Zeit kann aber auch die Untiefen der Kreativität anregen und uns Dinge tun lassen, die wir wunderbar vor uns herschieben konnten. Ich habe zu Beginn der Krise in Recherche für einen Artikel mit einem Psychologen gesprochen, der mir sagte, dass die Menschen „handlungsfähig“ bleiben müssten – ihrer Ohnmacht zum Trotz. Deshalb auch die Hamsterkäufe. Handlungsfähigkeit definiert wohl jeder anders. Ich habe gemerkt, dass ich mich immer dann handlungsfähig fühle, wenn ich das Gefühl habe, politisch oder gesellschaftlich aktiv zu sein. Das Gefühl kann ich mit meinem Schreiben erzeugen, manchmal braucht der Geist aber auch Abwechslung.

Ideen wollen Projekte werden

„Lass das wirklich machen, ich meine das komplett ernst.“ Es ist Frühling, die Sonne ist schon sehr stark im April und ich sitze auf der Terrasse und trinke Kaffee. Meine Freundin Coco ist am Telefon, ihre euphorisierte Stimme überschlägt sich. Eigentlich wäre sie jetzt in Südamerika backpacken. Haha. „Was hälst du von eingebüxt?“ Ich kneife meine Augen zusammen und sehe einen zarten Regenbogen zwischen meinen Lidern. „Warum eingebüxt?“ „Weil wir das sind. Fürs Studium aus dem Dorf nach Berlin, irgendwas mit Medien machen, und dann nach vier Jahren wieder weg, zurück aufs Dorf, weil uns die Stadt geschafft hat.“ Ich grinse und nicke. „Meinst du die Leute verstehen das?“ „Wir verstehen doch auch nicht alles und feiern es trotzdem.“ Wie wahr. „Aber wie macht man das – EINEN PODCAST?“ „So schwer kann’s nicht sein, guck dir doch das Angebot an.“ So sitzen wir miteinander, aber getrennt auf zwei Terrassen, in Hessen und in Nordrhein-Westfalen und diskutieren darüber, wie man einen Podcast strukturiert. Wir merken schnell, dass es dafür kein Rezept gibt. Kreativität funktioniert anders als ein Kochbuch. Das mag angsteinflößend sein, vor allem ist es aber wahnsinnig befreiend. Wir sind handlungsfähig. Wir können aktiv sein. Und vor allem können wir etwas erschaffen und teilen. „Ich finde das so cool“, sagt Coco, als wir unser Konzept besprechen: Mal politisch, mal ganz persönlich, immer feministisch. „Ich auch“, sage ich und bin plötzlich ganz stolz. Ich bin stolz auf unseren Mut, einfach zu machen, auch wenn uns die Expertise fehlt. Wir haben beide noch nie ein Schnittprogramm bedient und wir besitzen keine Mikros. Aber wir haben Lust und wir sind neugierig, und in diesem Sommer lerne ich, dass mit Neugier und Mut fast alles zu schaffen ist.

Ich lerne auch, dass sich Frustrationsgrenzen verschieben. Wir haben oft technische Probleme, manchmal fällt das Internet mitten in der Aufnahme aus, oder wir verzetteln uns total. Wir hatten uns den großen Podcast-Himmel ausgemalt, über unsere Freundesblase kommen wir in den ersten Folgen aber nicht hinaus. „Macht das überhaupt Sinn?“ Wir zweifeln – aber nicht eine Sekunde wirklich. Für uns macht es Sinn, weil es uns erfüllt. Wir merken mit jeder Folge mehr, dass wir Expertinnen unserer eigenen Lebensrealität sind und Menschen aktivieren wollen, über Dinge nachzudenken. Wir wollen kein Meinungspodcast sein, polarisieren wollen wir schon.

Lass dich selbst wachsen

Ich schreibe diese Text, weil ich überzeugt bin, dass es sich lohnt. Es lohnt sich, Dinge anzugehen, von denen man träumt. „Wenn man die Wahl hat zwischen machen und nicht machen, dann immer machen“, sage ich zu Coco. Das ist überspitzt und wohl nicht in jeder Lebenslage anwendbar, in den meisten aber schon. Ich hätte mir selbst niemals zugetraut, ein solches Projekt zu starten. Unbegründete Ängste halten uns von Dingen ab, die uns wachsen lassen könnten. Wir ruhen uns im Konjunktiv aus, weil die Phantasie eines Projektes bequemer ist, als die Startschwierigkeiten zu überwinden. Alles zu haben schließt die Selbsterfüllung nicht ein. Ich schreibe diesen Text, weil der Podcast für mich ein Sinnbild von Selbsterfüllung ist. Er ist eine Einladung und hoffentlich eine Inspiration, wach durchs Leben zu gehen, sich selbst und sein Umfeld aufmerksam zu beobachten, und Dinge zu verändern, die man ändern kann. Ich weiß wie schwer es ist, Muster zu erkennen und Gewohnheiten zu durchbrechen. Wie sich die Angst vor Unbekanntem anfühlt und wie groß die Berge sind, vor denen man steht, wenn neue Projekte betrachtet werden. Eine sehr schlaue Frau hat vor Kurzem zu mir gesagt, dass es keinen Stillstand gibt, nur Fort- oder Rückschritt. Ich glaube schon, dass es gut ist, auch man still zu stehen, um sich die Landschaft anzuschauen. Aber nachhaltiges Rückwärtslaufen kann es glaube ich nicht geben.

Ich habe auch gelernt, dass „perfekt“ nicht existiert. Perfekt ist ein Auswuchs unerreichbaren Anspruches und Unzufriedenheit. Nichts kann perfekt sein, solange es im Prozess ist und nichts Abgeschlossenes ist perfekt. Wir können also diese distopische Erwartungshaltung ablegen und all die Energie, die uns die Suche nach dem Perfektionsimus abverlangt, in kreativen Schöpfergeist stecken. Und einfach machen. Egal was. Das macht uns handlungsfähiger als es irgendwelche Verschwörungstheoretiker können. Vor allem bestimmen wir selbst über unseren Geist und unsere Zeit. Und wir lernen dabei, weil aktiv sein immer Bewegung bedeutet. Coco und ich sind dabei manchmal ein bisschen zu schnell, ein bisschen zu laut und ein bisschen zu forsch. Wir haben kürzlich 500 Sticker drucken lassen, die sich in Kontakt mit Wasser auflösen – was unsere Dynamik perfekt beschreibt. Wir wollen alles und mehr und rational ist das manchmal nicht fassbar. Wir sind wahnsinnig unperfekt. Aber wir wollen das. Wir wollen ausprobieren und vor allem wollen wir wachsen. Und wir spüren beide immer mehr, dass diese Art von Wachstum wundervoll ist.

Kreativität ist für alle da und heute ist später.

Foto: Unsplash

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