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Frau Sein

Über Wurzeln und das Patriarchat


„Ich ahne, dass es einen Weg gibt, den man nur herausfindet, wenn man ihn geht“. Ich lese diesen Satz mehrmals, ich flüstere ihn, weil ich das Gefühl habe, ihn aufzusaugen, wenn ich ihn ausspreche. Währenddessen streiche ich über die rauen Papierfasern von Seite 72. Ich schließe die Augen, der Kühlschrank brummt, ich denke an das Verrückte Labyrinth, das Brettspiel, mit dem Geist und der Fledermaus und den rechteckigen Pappkarten zum Schieben. Ich denke an die Dreifachgabelungen, die strategisch immer besser waren, als die vertikalen Linien. Mehr Abzweigungen mehr Möglichkeiten. Mehr Möglichkeiten mehr Entscheidungen. Mehr Entscheidungen mehr Überforderung. Und am Ende bleibt es verrückt, das Labyrinth.

So willkürlich ist das mit Lebenswegen nicht. Ich glaube an Zufall und manchmal glaube ich auch an Schicksal zu glauben. Aber ich glaube auch, dass sich Fleiß und Disziplin, Geduld und Zielstrebigkeit auszahlen, und dass Träume Ziele sind, wenn man wirklich will. Ich starre auf die Buchstaben. Wenn Lebenswege nicht kopiert oder fremdgesteuert bestimmt sind, dann merkt man den eigenen Weg wohl erst, wenn man sich bereits dort befindet. Der Satz auf Seite 72 stammt von Mely Kiyak, einer Schriftstellerin mit kurdischen Wurzeln. Ich erwähne das, weil es wichtig ist – weil sie es selbst als das Wichtigste beschreibt: Zu wissen, wo wir herkommen, um herauszufinden, wo wir hinwollen. Zu wissen, welche Erwartungen an uns gestellt wurden und latent an unserer Persönlichkeitsstruktur kleben. Wessen Projektionsfläche wir sind und welches Bild wir von uns selber haben. Was sehen wir, wenn wir in den Spiegel schauen, und was fühlen wir dabei? Mely Kiyak hat in diesem Herbst ein Buch veröffentlicht: Frau sein. Ich habe es verschlungen wie eine warme Mahlzeit nach einer langen Wanderung. Das Buch hat mich von innen genährt. Ich glaube, dass wir alle ein bisschen mehr in der Freiheit unserer Selbstverwirklichung gefangen sind, als wir uns das eingestehen wollen. Alles machen zu können kann sich sehr einschränkend anfühlen – speziell in einer Zeit, in der so gerne nach links und rechts geschaut, nach links und rechts gewischt wird. „Lass dir bloß nichts anderes einreden – es ist schön, eine Frau zu sein.“ Schreibt Mely Kiyak. Ich möchte keine Buchrezension schreiben, weil das Buch zu lesenswert ist, um alles vorwegzunehmen. Weil mich das Buch so bewegt, möchte ich aber teilen, was ich mitgenommen habe und worüber ich mir immer noch, und schon seit einer Ewigkeit, Gedanken mache.

Männlich, weiblich, wie bitte?

Ich habe in Berlin studiert. Der Stadt der Extreme, die jedes Vorurteil übertrifft und die überläuft – überall. Berlin ist über-voll, das Patriarchat tropft aus sämtlichen Subkulturen, wie ein Handtuch, das ausgewrungen wird, bis es so trocken ist, dass der Stoff auf der nackten Haut schmerzt. Berlin hat als erstes Bundesland den Frauentag zum Feiertag gemacht, an meiner Uni gab es die ersten Unisex-Toiletten, die in fast jedem Techno-Club seit Jahren so natürlich sind, wie das, was darin konsumiert wird. In Berlin ist androgyn hip, Margarete Stokowski wohnt in Mitte und der Christopher Street Day hatte im vergangenen Jahr fast eine Million Besucher. Berlins Farbkasten ist so bunt, dass die Farbpalette ins Unendliche reicht, das Patriarchat ist dabei schwarz. Im Kit-Kat-Club tanzen die Frauen nackt und die Männer nackt, die „Frauen-Kampf-Demo“ ist die Größte ihrer Art in ganz Deutschland und Body Positivity scheint nicht abstrakt, sondern allgemeingültig. „Manchmal hat man Angst ein Mann zu sein“, sagte neulich ein Freund zu mir. „Man weiß gar nicht, was Mann noch machen darf.“ Damit spielte er auf den Sexismus an, der in jedem Raum klebt, in dem sich Männer und Frauen befinden. Einfach nur, weil es Männer und Frauen sind. Ich finde es auch nicht gut, in die Vergangenheit zu schauen und aktuelle Unterschiede, wie das Gender Pay Gap hinzunehmen, mit dem Trost „wie viel wir schon geschafft haben.“

Wir. Die Frauen. Wir: Das sind nicht nur die Frauen, das müssen auch die Männer sein und alle dazwischen. Das Patriarchat wackelt. Das ist gut so. Das Matriarchat darf aber nicht in Angriffsposition auf die Übernahme warten. Ich will den Sexismus nicht umkehren. Ich will, dass sich wirklich etwas ändert! Ich glaube nicht, dass es mit dieser Anti-Haltung funktioniert. Mich nervt dieser elende Männerhass und die Ausgrenzung des männlichen Geschlechts bei der weiblichen Emanzipation. Ich möchte auch die gleichen Chancen haben, wie mein männlicher Mitbewerber, aber ich möchte nicht bevorzugt werden, nur weil ich eine Vulva habe. Gleichberechtigung. Vielleicht sollten wir klein anfangen. Nicht kleiner – Entwicklungen können gleichzeitig geschehen – aber manchmal hilft es, den Wirkungskreis zu verkleinern, um die Wirkung tatsächlich spüren zu können. Wir wollen vor allem verändern, was wir spüren. Deshalb muss das Ende des Patriarchats der Anfang der Selbstauseinandersetzung sein. Wenn die nicht schon längst begonnen hat.

Was bedeutet es eigentlich, eine Frau zu sein?

Für mich ist die Frage sehr schwer zu beantworten. Ich will nicht die Debatte über biologisches und konstruiertes Geschlecht anfangen, Simone de Beauvoir hat sich auf fast 1000 Seiten den Kopf darüber zerbrochen, tausende Andere tun es noch, werden es tun, werden daran verzweifeln. Das ist wichtig, aber mir ist dieser Gedanke zu groß. Ich fühle mich wie eine Frau und ich bin auch biologisch eine Frau. Und trotzdem weiß ich nicht, wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein. Meine Yogi-Freundinnen sprechen vom männlichen und vom weiblichen Teil in jedem Menschen. Ying und Yang, Schwäche und Stärke, Gegensätze, die in unterschiedlicher Ausprägung in jedem von uns zusammenfinden. Wenn ich darüber nachdenke, dann sind wir uns gar nicht so unähnlich, wir Männer und Frauen. Ich bin sehr emotional und ich weine in manchen Phasen viel. Das ist vielleicht typisch weiblich, vielleicht aber auch typisch hochsensibel. Ich mag Kerzen und Badewannen, ich mag den Geruch von frischen Blumen und ich mag das Geräusch, wenn Schnee unter meinen Schuhsohlen knatscht. Ich mag Schönheit in allen Ausprägungen, ich bin ein sinnlicher Mensch, wenn ich es zulasse. Gleichzeitig bin ich sehr trotzig. Als Kind habe ich in einen bunten Auto-Einkaufswagen im Baumarkt gepinkelt, weil ich nicht aussteigen wollte. Ich stampfe immer noch gerne mit dem Fuß auf den Boden, wenn ich mich argumentativ nicht mehr retten kann. Ich spiele gerne Fußball und ich trinke gerne Bier. Das ist nicht typisch männlich, das ist typisch menschlich. Ich könnte hunderte Beispiele aufzählen, jeder kann das.

Es ist leicht, sich als Frau oder als Mann zu definieren. Viel schwerer ist es, diesen Begriffen Bedeutung zu geben. Was bedeutet es denn, eine Frau zu sein? Und wie fühlt es sich an, sich als Mann zu fühlen? Ich habe einen Mann noch nie gefragt, ob der Geruch von frischem Apfelkuchen für ihn auch so sehr nach zu Hause riecht, wie für mich und ich glaube auch nicht, dass man jede Eigenschaft einem Geschlecht zuordnen darf. Frau sein fühlt sich wohl für jeden anders an, so wie sich Mann Sein anders anfühlt und generell Mensch. Und trotzdem gibt es eine Sache, die uns stark unterscheidet, obwohl sie das Superlativ der Natürlichkeit sein sollte.

Wenn Scham Sexualität erdrückt

Ich habe mich mit 22 das erste Mal in eine öffentliche Sauna getraut. Das Handtuch war dabei mein Sicherheitsnetz und während sich mein damaliger Freund in Entspannung gesuhlt hat, habe ich mich beobachtet und objektiviert gefühlt. Seitdem ist mir bewusst, dass wir Scham empfinden können, auch wenn wir über Sex sprechen wie übers Urlaub machen. Ich glaube auch, dass Frau Sein schambehafteter ist, als Männlichkeit. Wir kriegen Kinder und trotzdem sprechen wir kaum über Selbstbefriedigung. Sinnlichkeit wird oft als Träumerei abgetan, Rückzug als Attribut der Langeweile. Weibliche Sexualität galt lange als zur Befriedigung des Mannes vorhanden und Frauen als ‚leicht zu haben‘, wenn sie sich sexuell auslebten. Ich glaube schon, dass sich diese Vorstellungen lösen. Und trotzdem glaube ich, dass wir als Gesellschaft weniger weit sind, als wir das denken. Das Patriarchat und die weibliche Sexualität sind ineinander verwoben.

Was bedeutet es eine Frau zu sein? Sich als Frau zu fühlen? Ich habe mich in meiner Kindheit nie auf einen Spiegel gesetzt und mir angeschaut, wie ein weiblicher Körper von allen Seiten aussieht. Kleine Jungs sehen das jeden Tag. Große auch. Wir müssen suchen, um zu entdecken, was Frau sein bedeutet. Vielleicht haben viele von uns deshalb ein unnatürlicheres Verhältnis zu ihrem Körper.

Die kranke Frau aus der Werbung

Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht mehr in zu enge Jeans zwängen möchte, um Skinny auszusehen, weil Frauen ebenso aussehen sollten. Ich will die Normativität abschütteln. Ich möchte eine Frau sein. Aber eine, die sich selbst erschaffen hat. Ich will meine eigene Schablone sein. Ich will keine Charaktereigenschaften aufnehmen, wie ungefilterte Atemluft, ohne zu untersuchen, ob sie zu mir passen und ich will mich nicht selbst zum Stereotyp machen, indem ich ein Narrativ erfülle, das ich eigentlich ablehne. Ich kann süß und stark gleichzeitig sein. Wir alle können das. Weil wir unsere Gleichzeitigkeiten selbst bestimmen, wenn wir Gegensätze einfach mal Sätze sein lassen. Wenn wir das von Anfang an getan hätten, dann hätte sich das Patriarchat vielleicht gar nicht in dieser Weise entwickelt. Oder wir hätten es schon überwunden. Revolutionen hassen den Konjunktiv. Ich wünsche mir Integrität. Und dass wir uns alle ein bisschen mehr liebhaben. Nicht nur alle anderen, sondern vor allem uns selbst.

„Ich ahne, dass es einen Weg gibt, den man nur herausfindet, wenn man ihn geht“. Ich lese diesen Satz mehrmals, ich flüstere ihn, weil ich das Gefühl habe, ihn aufzusaugen, wenn ich ihn ausspreche. Währenddessen streiche ich über die rauen Papierfasern von Seite 72. Das Leben und das Verrückte Labyrinth sind sich doch ähnlicher, als ich gedacht habe. Das Leben ist nur bunter und der Kartenstapel ist größer. Wir haben das Glück, dass wir umdrehen und rückwärts gehen können. Und wir müssen uns nicht an Infrastruktur klammern. Lass dir bloß nichts einreden, es ist schön, eine Frau zu sein, schreibt Mely Kiyak. Wir sind nicht das schwache Geschlecht. Wir dürfen uns auch nicht so verhalten.

Foto: Unsplash