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An Bahnhöfen

An Bahnhöfen


Wir stehen am Hauptbahnhof in Köln. Unser Onkel hat uns direkt vorm Dom aus dem Auto geschmissen. Wir haben in den letzten drei Tagen Bundesländer-Hopping gemacht: Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz, dann NRW und heute Schleswig-Holstein. Wir machen ein hässliches Selfie mit dem Dom, dass mein Bruder an meinen Vater schickt: Wir sind in sieben Stunden da, kannst du uns bitte abholen? Ich freue mich auf die Kinder, sage ich, und meine unser Patenkind und ihre Geschwister. Ich freue mich auf den Hund, sagt mein Bruder, und meint den Hund von unserem Patenkind und ihren Geschwistern. Ein Freund schickt eine Sprachnachricht: Es wäre das anstrengendste Weihnachten seines Lebens gewesen. Ich fühle das sehr, sage ich. Dann kommt unser Zug nach Kiel, und wir hassen es beide, dass unser Papa an die Ostsee gezogen ist.

Weihnachten als Scheidungskind ist jedes Jahr blöd. Es wird blöder, je älter man ist, weil man weniger Zeit hat, die man dann auch noch aufteilen muss, obwohl man sie bräuchte, um zu entspannen. Familienurlaub ist kein Urlaub, es ist Stress, trotz Vorfreude. Das Bett, in dem ich nachts wach liege ist unbequem und jedes Jahr aufs Neue versuche ich meinen Platz zu finden, in einem Zuhause, dass schon lange nicht mehr meines ist.

Ich bin froh, dass mein Bruder neben mir sitzt. Ich sehe ein bisschen mich, wenn ich ihn anschaue. Er hört Musik, hat seine Hände in den Taschen vergraben und sieht sehr friedlich aus, und trotzdem wie ein Berg, der auffängt, was ich nicht halten kann. In seinen Armen liegen unerfüllte Erwartungen und damit verbundene Enttäuschungen. Mein Bruder kann gut fangen und ich bin ihm sehr dankbar. Er versteht, was ich fühle, wenn ich sage, dass Weihnachten für mich emotional anstrengend ist. Ich muss nicht erklären, dass ich unseren Hund vermisse, wie er an den Geschenken knabbert und ein Stückchen Käse vom Tisch bekommt, auf dem das Raclette steht. Unser Hund ist in diesem Jahr gestorben, und ich muss das nicht erwähnen, weil mein Bruder es nicht vergisst, weil er den Schmerz teilt, den ich fühle. Er fühlt die Leere auch, dieses Loch, dass das Fehlen einer Selbstverständlichkeit in Herzen reißt. Sein unausgesprochenes Verstehen hilft.

Am 23. Dezember sitzen wir zusammen bei Oma am Tisch und versuchen nachzuvollziehen, wie es sich anfühlen muss, Weihnachten alleine zu sein. Wir sind beide überschwänglich freundlich, obwohl uns alles traurig macht, mich, meine ich, mein Bruder mag es nicht, wenn ich von seinen Gefühlen in meiner Mehrzahl spreche. Wir kriegen Socken und ich hoffe, dass Oma auch warm ist, weil der Dezember ganz schön kalt sein kann. Und der Januar und der Februar, und manchmal auch der August. Es ist gleich halb drei und wir sind in Osnabrück. Ich schaue aus dem Fenster und höre Musik aus den 2000ern, ich drehe die Zeit in meinem Kopf zurück, und manchmal möchte ich einen Zeitumkehrer haben. Manchmal drifte ich in die Melancholie der romantisierten Vergangenheit ab und denke, dass früher alles leichter war. Ich denke das, weil es mir manchmal schwerfällt, Verantwortung für mich zu übernehmen und tatsächlich erwachsen zu sein. Ich bin 26, und trotzdem fällt es mir schwer, schwerer als manchmal mit 18. In meinem Kopf existiert neben meiner Realität ein ganzes „was wäre, wenn“ Schloss und manchmal flüchte ich mich in seine Tagträume. Die Wände im Schloss sind aus Fell, alles ist sehr bequem und es gibt keine harten Kanten, an denen ich mich stoßen kann.

Mein Schloss verwirrt mich manchmal, weil es mir aufzeigt, dass ich nicht an zwei Orten gleichzeitig, nicht zwei Personen gleichzeitig sein kann. An manchen Tagen fühle ich diese Zerrissenheit mehr als an Anderen. Weihnachten triggert das Gefühl besonders. Es meldet sich in Situationen des gesellschaftlichen Diskurses, an Streitpunkten, die sich durch Familien und Freundschaften ziehen. Mein Bruder hat eine Präsentation über den Klimawandel und unser Konsumverhalten für unsere kleinen Cousinen vorbereitet. Er ist Idealist genug, um einem Sechsjährigen Salami-liebenden Kind zu erklären, was ihr Verhalten mit dem Planeten macht. Währenddessen probiere ich Gans vom Teller meines Freundes und eine Freundin sagt, dass man das Klimabuch von Greta Thunberg allerhöchstens auf die Straße kleben könnte. Ich verschenke einen Flug nach Dublin zu Weihnachten, wie schön Dublin, soll ja landschaftlich toll sein, da wollte ich schon immer mal hin, und fange im nächsten Atemzug mit meinem Freund den dicksten Streit an, weil ich den Überfluss am Weihnachtstisch beklage, den ich nicht aushalte, weil ich soziale Ungleichheit im Rotweinkuchen schmecken kann. Ich bin wütend auf ihn, obwohl ich eigentlich wütend auf meinen Hypokritizismus bin, weil ich nicht aushalten kann, dass es mir gut geht, wenn es das so vielen anderen Menschen eben nicht tut. Mir ist das zu viel heile Welt an diesem Tisch, zu viele Kuchen für zu wenig Menschen, zu viel Geschenkpapier und zu wenig Musik. Ich würde mich gerne auflösen, weil ich diese Spannung nicht ertragen kann. Familie triggert sämtliche ambivalenten Emotionen in mir, weil sie mich schon immer kennt, und mich mit einer Wahrheit konfrontiert, um die herum ich mich bewege, und noch nicht so richtig positioniert habe. Schweben macht keinen Spaß bei Regen im Dezember.

Im Zug vor mir weint ein Kind, das mit Nachos gefüttert wird. Es sitzt auf dem kleinen Klapptisch, auf dem mein Laptop auch steht, fast runterzufallen droht, weil der Tisch genauso ist, wie ich mich fühle, irgendwie unpassend. Ich frage mich, ob sich der Tisch klein fühlt, wenn er ständig mit den großen Dingen dieser Welt dealen muss. Mit müden Köpfen, die auf ihm Ruhe suchen zum Beispiel. Mein Bruder und ich sind auch müde. Wir haben die letzten drei Nächte in drei verschiedenen Betten verbracht, meistens auf Matratzen auf dem Boden, auf denen wir zum Teil seit über 20 Jahren schlafen. Die Matratzen sind mittlerweile durchgelegen. Sie kommen uns klein vor, obwohl wir früher Burgen aus ihnen gebaut, in denen wir drei Tage lang gewohnt haben. Drei Kinder-Tage fühlen sich an wie ein halbes Erwachsenen-Leben. Die Matratzen haben unsere Kindheit und unsere Jugend konserviert, in diesem Jahr hat meine Tante Einlegeschlafsäcke aus Baumwolle gekauft, damit man die Bettwäsche nicht mehr beziehen, und danach nicht mehr waschen muss. Mein Bruder hat mit dem Baumwollschlafsack die Bettdecke bezogen und ich habe gestern Nacht das Gleiche versucht.

Der Zug ist voll und die Leute stehen im Gang. Ich frage mich, ob sie auch so müde sind wie wir. Die Frau neben uns fragt nach einem Ladekabel und ob wir auch in Hamburg aussteigen. Nein, wir fahren weiter, unser Papa ist an die Ostsee gezogen. In drei Tagen sitzen wir hier wieder und im nächsten Jahr wohl auch, und in dem danach, und in dem danach. Ich schaue aus dem Fenster und denke, dass das bisher die besinnlichsten Stunden sind. Ich fühle keinen Druck mehr und auch nicht, dass alles perfekt sein muss. Ich bin traurig, dass meine Familie so zerstreut ist und dass ich es auch manchmal bin, also zerstreut. Mein Bruder fragt, ob es einen Malaria Impfstoff gibt. Ich sage ja und er nickt. Meine Melancholie wird kleiner, und langsam freue ich mich tatsächlich, auf die Kinder, und auf den Hund. Und sogar auf die Matratze auf dem Boden, die mich daran erinnert, dass ich nur zu Besuch bin, und freudig erwartet werde, so lange, bis auf meinem eigenen Boden eine Matratze liegt, mit einem Baumwollschlafsack, bereit, um Menschen zu empfangen, die nach Hause kommen wollen.

Foto: Unsplash