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Aprilgedanken

Aprilgedanken


Mein Opa wurde gestern im Friedwald bestattet. Während mein Onkel über einen Blumenkranz stolpert, der sich unter einer zarten Schneedecke versteckt, fragt meine kleine Cousine, ob die Urne ein Loch hat, damit Opa rausgucken kann. Wir lachen und weinen und es ist so kalt, dass meine Gefühle ein kleines bisschen betäubt sind.

Hochsommer im März, Schnee im April

Genauso fühle ich mich auch. Irgendwie nebelig und im Wechselbad großer Emotionen, zwischen schönen Alltags-Augenblicken und dem grausamen Weltgeschehen, schwebend. Es ist kein gemütliches Schweben, wie früher, wenn man sich beim Fliegen vorgestellt hat, dass die Wolken Zuckerwatte sind. Es ist ein Schweben, bei dem man weiß, dass man irgendwann abstürzen muss, weil die Realität nicht wolkig ist, und momentan ganz schön schwer zu ertragen.

Ich sehe die Bilder aus Butscha und ich sehe die Bilder aus Berlin, ich sehe tote Zivilst*innen und Menschen, die russische Flaggen schwenken. Ich sehe Influencer*innen, die Tropenurlaub machen und ich schaue mir auf Netflix die Show „Is it cake“ an, weil mir nichts stumpferes einfällt, dass mich von der Nachrichtenflut ablenkt, in der ich mich den Rest des Tages befinde. Manchmal denke ich über meine Kurzsichtigkeit nach, und dass es immer irgendwo Krieg gibt, und dass geopolitische Nähe keine Erklärung für besonderes Mitgefühl und keine Entschuldigung für persönliche Einschränkungen sein kann. Krieg ist immer gleich schlimm, nur nicht immer gleich nah.

Ich habe viel geweint in den letzten Tagen und Wochen, gestern am Grab meines Opas, ist mir aufgefallen, dass ich gar nicht richtig wusste, warum. Das Gefühl heißt Weltschmerz. Es lähmt und irgendwie tut alles ein bisschen weh. Ich bin so wütend auf Putin und diese ganze Maschinerie und heute Morgen, als ich die Proteste der prorussischen Anhänger vom Wochenende in Berlin gesehen habe, stumpf und wütend blau-rot-weiße Flaggen schwenkend, da musste ich an Trump-Anhänger denken. Putin ist ein Kriegsverbrecher, und Putin ist nicht der einzige seiner Art. Auf dieser Welt gibt es viele größenwahnsinnige, machtgeile Männer, die scheinbar alles tun würden, um sich ins geostrategische Zentrum zu befördern. Mir macht der Gedanke Angst, wenn ich an die amerikanischen Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren denke, und es macht mich wütend, dass Viktor Orban wieder eine Mehrheit bekommen hat und ungarischer Präsident bleiben darf.

Ich habe kürzlich und reichlich verspätet das Buch 1984 von George Orwell gelesen und musste mit Schrecken feststellen, dass jene dort beschriebene Form der Staatspropaganda in ihrer perversen Form in Russland Alltag ist. Ein Großteil der Menschen fügt sich, weil sie verlernt haben, sich der Freiheit ihrer Gedanken zu ermächtigen. Weil sie verlernt haben zu denken. Weil es nur eine einzige Meinung gibt und weil immer wieder Menschen verschwinden, die das Anzweifeln. Putin verübt nicht nur einen Genozid an der ukrainischen Bevölkerung, er versklavt auch die Gehirne des russischen Volkes. Seine Propaganda ist nicht nur Manipulation, sie ist Gift für Völkerverständigung und internationale Gemeinschaft, für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, und Freiheit.

Das sind so große Begriffe, dass ich manchmal mit ihrer vollen Pracht und ihrer Reichweite überfordert bin. Ich verstehe erst langsam, dass alles, wirklich alles, zusammenhängt, dass gar nichts selbstverständlich und ‚normal‘ kein reales Konzept ist. Die Welt kann sich von heute auf morgen tatsächlich ändern und langsam begreife ich, was Olaf Scholz mit der ‚Zeitenwende‘ meint.

Der Ukraine-Krieg fordert nicht nur das Leben von unzähligen unschuldigen Menschen, er gefährdet die Welternährung, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Er fordert Deutschland zur Durchsetzung eines Energie Embargos heraus, das längst überfällig ist. Alle Menschen in meinem Umfeld, mit denen ich mich darüber unterhalten habe, sind bereit, im Kalten zu sitzen. Wir wollen Russlands Krieg nicht mitfinanzieren und wir haben genug Klamotten, um uns warm anzuziehen. Wir wollen kein russisches Gas und wir sind überfordert mit der Ohnmacht, der wir ausgesetzt sind, unser Unterbewusstsein kann schlecht damit dealen, dass Krieg ist, und wir zuschauen.

Ich bin überfordert von der Situation und sehr wütend und traurig und manchmal ganz leer. Gleichzeitig, neben dem Schmerz, den ich für all die betroffenen Menschen spüre, kann mein Kopf es sich nicht verkneifen, sich über die teurer werdenden Lebensmittel zu ärgern. Ich frage mich ganz naiv, warum wir nicht einfach in Frieden leben können. Können wir nicht, auch nicht im Mikrokosmos. Will Smith und Rapper Fat Comedy können das nicht, und all die Menschen, die andere Menschen schlagen aber nicht berühmt genug sind, dass es die Weltöffentlichkeit schert, die können das auch nicht.

Meine Familie war relativ zerstritten, weil mein Opa einen sehr hitzigen Charakter hatte. Und aus vielen anderen Gründen, jede*r würde da wohl etwas anderes sagen, Perspektive ist immer relativ. Gestern jedenfalls, an Opas Grab, haben trotzdem alle geweint. Die Bestatterin hat Frieden gewünscht und ich finde es absurd, dass wir es nicht einmal in unserem persönlichen Mikrokosmos schaffen, pazifistisch zu sein. Gewalt ist ja nicht nur körperlich, Gewalt ist auch emotional. Ich finde das ganz traurig für meinen Opa, dass er im doppelten Krieg gestorben ist, und ich finde es traurig, dass da wirklich kein Loch in der Urne war. Er hätte sich sicherlich gefreut rauszuschauen, und zu sehen, dass die ganze Familie da ist, acht Enkel und drei Kinder, um sich von ihm in Frieden zu verabschieden.

Eine kleine Trauergemeinschaft. Wir sind kleine Leute und Putin ist auch kleine Leute, weil alle Menschen gleich groß sind, sie wissen das nur nicht. Putin steht auf Leichen, deshalb wirkt er so riesig. Auf diesem Berg nackter unschuldiger Körper steht er nicht erst seit dem Einmarsch in der Ukraine vor sechs Wochen und nicht erst seit der Annektion der Krim. Putin geht seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 über Leichen und wir liefern ihm lächelnd die Werkzeuge, weil wir ihn mit russischen Gasimporten finanzieren. Wir finanzieren seine Panzerhaubitzen, seine Speerspitzen, seine Gefechtsmörser, und seine Soldaten, weil wir bei 22 Grad im Winter Blockbuster schauen müssen.

Ich fühl‘ die Überspitzung beim Schreiben und ich weiß, dass es so einfach nicht ist. Aber das ist eine überreife Ausrede. Russland muss gestoppt werden, weil Putin ansonsten zum Symbol einer Autokraten-Figur wird, die China oder Nordkorea als Vorbild dienen kann. Die Drohung mit nuklearen Reaktionen kann keine Einschüchterung sein, die ein Nichtstun zur Folge hat. Was passiert, wenn China Taiwan annektiert und Nordkorea Südkorea angreift? Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, im weltpolitischen Zeitalter der Solidarität und der internationalen Verantwortung zu Beschützen. Die Vereinten Nationen wurden gegründet, um den Weltfrieden zu wahren, um sämtliche Zivilst*innen dieser Welt vor eben jenen Verbrechen zu schützen. Wir sind verantwortlich! Nicht nur, weil sich unser Wohlstand aus dem vergangenen Leid von anderen Ländern speist – wir sind verantwortlich, weil wir uns mit dem Beitritt in die Vereinten Nationen und dem Verteidigungsbündnis NATO dafür ausgesprochen haben.

Auch wenn das so klingt, ist das keine kategorische Realpolitik-Kritik. Ich bin beeindruckt von Anna-Lena Baerbock und Robert Habeck und dass die Zeit der großen Worte in schönen Anzügen vorbei ist. Ich sehe Angela Merkel nicht mehr nur romantisiert verklärt, als die Muddi, die es als weltweit einzige Frau mit den machthungrigen Männern dieser Welt aufnehmen konnte, sondern frage mich, warum sie Russland gegenüber keinen strikteren Kurs gewagt hat. Warum sie, selbst nach dem Kaukasuskrieg in Georgien 2008, Russland nicht mit Sanktionen bestraft, sondern mit Wirtschaftskooperation verharmlost hat. Die Appeasement-Politik der vergangenen Jahrzehnte ist sicherlich Mitschuld an den Kriegsverbrechen, die Russland seit dem 24. Februar Tag für Tag in der Ukraine verübt. Wie krass, dass die Inbetriebnahme von Nord-Stream 2 bis vor wenigen Wochen noch in solch klarer Nähe war – und Gerhard Schröder ein Mann mit Gesicht.

Ich wünsche mir, dass die deutsche Politik sich noch klarer gegen Russland stellt und allen Autokraten dieser Welt zeigt, dass ein solches Verhalten international auf allen Ebenen bestraft wird. Ich wünsche mir auch, dass die Politik uns Bürger*innen zutraut, Verantwortung zu übernehmen und Sanktionen auszuhalten, die vielleicht im ersten Moment wehtun. Ich spreche aus einer privilegierten Blase, da ich studiere, arbeite und finanziell von meinen Eltern unterstützt werde. Ich weiß, dass es sich nicht alle Menschen leisten können, Sanktionen gegen Moral abzuwiegen. Diese Menschen müssen aufgefangen werden. Viele andere können das aber nicht nur aushalten, sondern wollen das auch! Das dürfen Sie uns zutrauen.

Derweil denke ich an meine kleine Cousine, die das Konzept Krieg besser verstanden hat, als man es einem sechsjährigen Mädchen zutrauen würde. „Putin ist ganz scheiße, obwohl man scheiße nicht sagen darf“, sagt sie, und dann fragt sie, wann Opa denn nun verbrannt wird. Ich muss lachen und bin sehr dankbar, dass meine Cousinen und Cousins noch Zeit haben, ganz friedlich Kind zu sein.

Foto: Unsplash