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Generation WAS?

Zwischen Sinnsuche und Sicherheit


Generation, die: Gesamtheit der Menschen ungefähr gleicher Altersstufen [mit ähnlicher sozialer Orientierung und Lebensaufassung]. *Duden

Ich bin 1996 geboren. Damit gehöre ich gerade noch zur Generation Y – nicht Ypsilon, sondern why. Ich bin Teil der Millennials, der Generation WARUM. Bis vor kurzem habe ich das nicht hinterfragt – man sucht sich nicht aus, wann man gezeugt wird und ändern kann man daran auch nichts. Verstehen, wie meine Generation von außen wahrgenommen wird, wie sie denkt und was uns alle verbindet, möchte ich aber schon. Vor allem aber möchte ich wissen, nach was wir so krampfhaft suchen, warum es uns so schwerfällt, einfach glücklich zu sein und was das ganze damit zu tun hat, dass wir uns nicht festlegen können.

Fremdwahrnehmung: Zwischen Freiheit und Sicherheit

Von der Heinrich-Böll-Stiftung als „Sinnsuchende und Sicherheitsbegehrende“ definiert, sind wir 20 bis 40-Jährigen die erste Generation, die ohne Systemalternativen aufgewachsen ist. Wir haben weder einen Weltkrieg, noch die Zeit danach miterlebt und wir haben schon als Babys die Vorzüge der Demokratie abgefeiert, ohne zu wissen, was das überhaupt ist. Wir sind die ersten Mädchen, die blaue Strampler getragen haben und die Zeit der politischen Frühbildung unter einer Bundeskanzlerin erlebten. Wir sind die Generation der Fernreisen und Studienabschlüsse, der Freizeitgestaltung und des Euros. Die meisten von uns leben im globalen Vergleich sorglos und satt im technischen und sozialen Saus und Braus. Wir sind eine Multioptions-Generation und wir haben das Privileg, des schönen Lebens. So liest sich das jedenfalls aus der Vogelperspektive.

Gleichzeitig ist die Zahl der an Depressionen Erkrankten in meiner Generation so hoch wie nie. Laut dem Verband der Deutschen Depressionshilfe leiden 8,2% der jungen Erwachsenen aktuell an einer Depression. Selbst unsere Großeltern, die noch wissen, wo sie am D-Day gewesen sind, waren im Durchschnitt glücklicher. Oder zumindest weniger unglücklich. Im weltweiten Vergleich der Länder mit den zufriedensten Einwohnern taucht Deutschland nicht auf. Das Bruttosozialprodukt eines Landes berechnet die Zufriedenheit seiner Bürger nicht mit ein. Wir sind eine Generation des Wachstums, obwohl wir genug haben. Liegt hier vielleicht das Problem?

Können wir noch Verantwortung übernehmen?

Ich sitze gerade im ICE 106, Wagen 31, Platz 65, von Basel nach Frankfurt am Main. Es regnet seit zwei Tagen ununterbrochen und während ich den Tropfen auf dem Fenster zusehe, wie sie sich tänzelnd miteinander verbinden und in Schlieren an mir vorbeirasen, muss ich an ein Buch denken, dass ich vor einigen Jahren gelesen habe und das mich damals sehr beschäftigt hat. 2015 hat der deutsche Autor Michael Nast das Buch „Generation beziehungsunfähig“ im Edel Verlag publiziert. Damals hatte ich gerade in Berlin angefangen zu studieren – mein Umfeld, jung und wild und bereit, sich durch Exzess und Grenzerfahrung die Freiheit zu erkaufen, stellte die perfekte bildliche Untermauerung der theoretischen Zeichnung unserer Generation dar: ungebunden, bis zum Schluss. Den Schluss zieht Nast dabei mit 30 – vorwurfsvoll betrachtet er Singles ohne Kinder und Eigenheim, die noch in Wohngemeinschaften wohnen, ab und zu ein Bier zu viel trinken und im zwölften Semester Philosophie studieren. Er wirft einer ganzen Generation – uns – vor, sich nicht festlegen zu können, selbst wenn wir es wollten – das Narrativ der unendlichen Möglichkeiten bände uns die Hände. Als würden wir fremdgesteuert von One-Night-Stand zu Freundschaft Plus geschubst werden, weil unsere Generation eben so ist: verantwortungslos und ein wenig verloren. Damals konnte ich mich gut mit Nasts Worten identifizieren. Ich schimpfte über die Spießigkeit von Paaren – außer sie waren gleichgeschlechtlich, das hielt ich für exotisch genug, um dem System zu entfliehen – schimpfte über Gedanken an Sicherheit, fing an zu rauchen und schimpfte weiter, über alles, das mir angepasst und ordentlich erschien. Ich badete im Freiheits-Pathos und mein Umfeld tat es mir gleich. Wir lebten in einer Vorstellung des Exzesses und reisten in unserer Phantasie nach Woodstock. Gleichzeitig verpasste ich niemals eine Vorlesung und versteckte meine Zigaretten, wenn ich nach Hause zu meinen Eltern fuhr. Ich lebte die Ambivalenz, die an unserer Generation reißt. Die Vorzüge des Systems ausreizen, während wir sie beklagen. Je länger ich über Michael Nast und sein Buch nachdenke, desto wütender werde ich. Ich war damals gerade 20 Jahre alt, liebte die Literatur mehr als die Liebe, weil ich keine Ahnung hatte, was das überhaupt ist, und hatte mir noch nicht genug kritischen Verstand antrainiert, um Dinge ganzheitlich zu hinterfragen. So saugte ich Nasts Gedanken auf – und als Teil der Generation Y verstand auch ich mich plötzlich als beziehungsunfähig. Ich nutzte das Narrativ, um vor tiefen Emotionen zu flüchten, ich nutzte es als Rechtfertigung, um mich bei flüchtigen Bekanntschaften nie wieder zurückzumelden, log mich selbst an, wenn es ernster wurde und akzeptierte die mir zugeschrieben Charaktereigenschaft, ohne sie selbst zu untersuchen. Beziehungsunfähig ist man nicht einfach – beziehungsunfähig macht man sich selbst.

Vielleicht ist Berlin in der Extremität eine nicht repräsentable Blase – Generationen sind aber ein föderalistisches Bündnis, deshalb sind meine Erfahrungen aus der Hauptstadt wohl auch in den Rest der Republik ableitbar – wir rezipieren außerdem alle die gleichen sozialen Medien und genießen eine ähnliche Schul- und Medienbildung – was wichtiger bei der Persönlichkeitsentwicklung ist, als man denkt.

Alle guten Dinge sind frei. Oder?

In meiner Blase in Berlin wurde Freiheit sehr großgeschrieben. Ich frage mich heute, ob wir exzessive Freiheit in allen Himmelsrichtungen suchten, um uns innerlich zu befreien: von Druck und Stress und der Schwere, die ein Möglichkeitenpluralismus mit sich bringt. Beziehungen hatten nur noch die Exoten in meinem Freundeskreis. Viele offen. Früher oder später waren diese Beziehungen dann auch wieder zu Ende, weil einer verletzt und einer betrogen war und weil Beziehungen so wahnsinnig, wahnsinnig anstrengend sind. Es wurde viel geknutscht und viel getrunken, viel getanzt und ab und zu wurde ein AIDS-Test gemacht, nur für den Fall. Richtig gefühlt habe ich das ganze nie. Ich habe mich nicht auf Sex-Positive-Partys getraut und mein Selbstwert ist Achterbahn gefahren. Wir haben uns als Feminsitinnen betitelt, meine Freundinnen und ich – wir dürfen schlafen mit wem wir wollen, wann wir wollen, und wo wir wollen, so dass Narrativ – gleichzeitig waren wir abhängig von einer testosteronalen Bestätigung. Wir sind im Hamsterrad der Freiheit gerannt und haben dabei nicht gemerkt, dass wir uns im Käfig befinden.

Mir fällt Nasts Buch und die Fremd-Definition meiner Generation in diesem Moment ein, weil ich die letzten Tage mit meinem Freund verbracht habe und gerade auf dem Weg nach Hause bin. Er wohnt in der Schweiz, ich nicht. Er gehört zur Generation beziehungsunfähig, ich auch. Und trotzdem funktioniert es irgendwie – das Konstrukt, das ich die letzten Jahre so vehement abgelehnt habe. Wir sind jetzt gut ein Jahr zusammen, er und ich. Währenddessen haben wir uns schon drei Mal getrennt und es vier Mal wieder versucht, haben die Beziehung geöffnet und wieder geschlossen. Wir reden über Polygamie und Sex zu dritt und ich frage mich, ob ich es überwunden habe: Michael Nasts Vorwurf der Beziehungsunfähigkeit.

Dann definier‘ sie halt um, die Generation Y

Ich habe in den letzten Monaten einige Beobachtungen gemacht, die ich gerne teilen möchte, weil ich überzeugt bin, dass wir uns nur selbst hochkatapultieren können, auf dem Barometer des Glücks. Dass wir dafür aktiv sein müssen, und vor allem mutig. Und dass wir uns nicht und von niemanden vorschreiben lassen dürfen, wie wir uns zu definieren haben, wer wir sind und was wir wollen sollten. Es haben ja auch nicht alle Hippies der 68er Bewegung Drogen genommen und barfuß im Regen getanzt. Es gibt keinen Bauplan des guten Lebens, kein Rezept für Zwischenmenschlichkeit und kein Charakterbarometer der Generation Y. Wir haben uns nicht ausgesucht, Teil einer Generation ohne Mauer zu sein, ohne Hitler und mit 4G. Wir haben uns nicht ausgesucht, in einem Land geboren worden zu sein, das wirtschaftlich stark und politisch stabil ist. Wir haben uns generell nicht ausgesucht hier zu sein. Das stelle ich mir manchmal vor, wenn ich sehr unzufrieden mit mir und der Welt bin. Normalerweise stelle ich in diesen Phasen alles in Frage. Meistens mache ich dann erst mit meinem Selbstwert und dann mit meinem Freund Schluss. Weil ich langsam verstehe, dass gebrochene Herzen nicht unendlich oft zu flicken sind und weil Zerstörung nicht sehr konstruktiv ist, gewöhne ich mir das gerade ab. Wenn man sich nicht im Schwermut der Welt ertränkt, sondern sich a la Nietzsche mit der Bedeutungslosigkeit des eigenen Seins auseinandersetzt, verwandelt sich die Sinnsuche und Entscheidungsschwierigkeit fast in Luft. Es ist egal, ob es heute Abend Pizza oder Curry gibt, ob wir an die Ostsee oder den Atlantik fahren, ob wir Achselhaare oder Zungenpiercings haben. Es ist egal, was wir tun und es ist egal, wie wir aussehen. Hauptsache wir tun etwas und wir stehen dazu! Eine Generation definiert sich letztendlich selbst.

Wir können uns leisten uns nicht entscheiden zu müssen

Ich würde Michael Nast gerne sagen, dass sein Buch zwar Identifikationsfläche für sehr viele sehr verlorene junge Erwachsene bietet, gleichzeitig aber entmutigt. Es ist eine Distopie der modernen Liebe und ich finde es zu einfach gedacht. Wir sind nicht beziehungsunfähig – vor allem sind wir nicht alle gleich. Vielleicht haben wir verlernt mutig zu sein, weil wir gewohnt sind, dass alles da ist, was wir brauchen. Wir sind mit dem Glauben aufgewachsen, dass wir alles werden können, was wir wollen; haben mit dem Satz Abitur gemacht, dass uns die Welt gehört. Wir können uns leisten, uns nicht festlegen zu wollen.Vielleicht haben wir verlernt, uns in der Vorstellung einer romantisch-monogamen Beziehung zu Hause zu fühlen. Und das ist in Ordnung. Wir dürfen das. Aber wir müssen nicht. Ich wünschte ich könnte meinem 20-Jährigen-Ich sagen, dass es am Revolutionärsten ist, wenn es sich seines eigenen Verstandes bedient. Und dass Liebe ziemlich schön sein kann, wenn man sich traut, sie zuzulassen.

Es regnet immer noch, während sich mein Zug durch Süddeutschland bewegt. Neben mir sitzt ein Pärchen. Sein Kopf liegt auf ihrer Schulter, ganz zart und automatisiert streichelt sie seine Schläfen, während sie ein Buch liest. Er hat die Augen geschlossen, sein Brustkorb bewegt sich langsam. Die beiden strahlen so eine ruhige Wärme aus, dass mich der Anblick ganz glücklich macht. Ich habe Lust auf Liebe. Und ich fühle mich sehr frei in diesem Moment.

Generation der endlosen Fragen und der Suche nach dem Sinn

All das beantwortet meine Frage aber nur zum Teil. Dass Stigma Beziehungsunfähigkeit, das im Schoß des Freiheits-Pathos liegt, kann nicht allein für die kollektive Unzufriedenheit verantwortlich sein. Generation Y. WHY. WHY? Vielleicht ist es genau das. Vielleicht sind wir so unzufrieden, weil wir Fragenstellen können. Unter uns ein Sicherheitsnetz und über uns der Himmel. Wir müssen weder, wie die Generationen vor uns, das Netz weben, das uns in Krisen auffängt und wir müssen auch nicht das Dach abdecken, das uns vom Universum trennt. Wir können uns für Sicherheit entscheiden, oder für Freiheit. ‚Alles ist möglich‘ ist keine Floskel mehr. Wenn alles möglich ist, dann liegt es in der menschlichen Natur, das Bestmögliche zu wollen. Und wenn man danach sucht, dann kommt man an der Frage nach dem Sinn nicht vorbei. Und daran sind bekanntlich schon die großen Philosophen jeder Zeit gescheitert. Why.

Trotzdem möchte ich nicht in einer anderen Zeit geboren sein. Wenn wir jetzt auf dieser Welt sind, um Fragen zu stellen, dann müssen wir genau das tun. Wir haben das Privileg, auf Dinge aufmerksam machen zu können, die nicht richtig sind. Wir müssen das sogar. Wir sind der Motor für Veränderung und weil wir Wachstum kennen, könnten wir uns in Widerstand üben. Ich wünsche mir, dass wir uns selbst weniger als Generation Ypsilon, aber als Generation WHY wahrnehmen – dass wir niemals aufhören zu fragen und den demokratischen, friedlichen und freiheitlichen Zeitgeist (zumindest in Deutschland) als Geschenk und fruchtbaren Boden für kreative Selbstverwirklichung, aktive Mitgestaltung und transnationalen Austausch wahrnehmen – und nutzen.

Vielleicht sollten wir uns dabei in Genügsamkeit üben. Und ein wenig Demut und Verzicht. Laut World Happiness Report ist das glücklichste Land der Erde übrigens Finnland.

Foto: Unsplash