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Good News 2021

Gab‘ auch schönes dieses Jahr – Good News 2021


Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, erklären Lehrer:innen im Deutschunterricht, poltern Menschen an Stammtischen, sagen Mamis zu Papis auf Spielplätzen. Jede:r scheint zu wissen, dass Nachrichten einen negativen Bias haben und dass Sensation sich verkauft. Diese Annahme wird von der Nachrichtenwerttheorie, entwickelt vom amerikanischen Journalisten Walter Lippmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bestätigt. Er erarbeitete Kriterien, anhand welcher Journalist:innen Informationen auswählen, die sie zu Nachrichten aufbereiten. Es ist klar, dass niemals alles berichtet werden kann. Deshalb können wir niemals alles wissen, auch wenn uns das im Zeitalter der sozialen Medien manchmal so erscheint. Kriterien der Nachrichtenauswahl sind dynamisch, viele aber sind seit 100 Jahren unverändert, so zum Beispiel Sensationalismus, Schaden und Nähe. Das Nähe-Distanz Verhältnis hat sich mit dem Voranschreiten der Globalisierung verschoben, nicht nur geopolitisch ist heute vieles sehr nah, auch emotional können wir uns mit der ganzen Welt verbunden fühlen. Das macht auch die global aktuelle Berichterstattung wichtiger. Negativität ist als Kriterium der Nachrichtenauswahl in den 60er Jahren dazugekommen. Seitdem pervertiert die Klatschpresse dieses Element bis ins Äußerste, aber auch seriöse Medien machen von Negativität als Aufmerksamkeits-Falle Gebrauch. Der Clickbait-Wettbewerb läuft auf Hochtouren – süße Katzenbabies sind eine gefahrenlose Ausnahme.

Während der Pandemie hat sich dieses Phänomen verselbstständigt. Inzidenzen und Hospitalisierungsraten haben die vergangenen zwei Jahre Schlagzeilen geritten, viele Medien nutzen die Angst der Menschen noch immer für ihren Profit. Es ist wichtig, relevant zu berichten und weil der Mensch evolutionsbedingt am Überleben interessiert ist, ist es unabdingbar, ihm akute Risiken aufzuzeigen. Ich erinnere mich 2021 vor allem an die Flutkatastrophe im Aartal und den Abzug der Truppen in Afghanistan, was die Rückkehr der Taliban-Herrschaft mit sich gebracht hat – Geschichten des (Über)Lebens. Sie bleiben uns im Kopf, weil wir uns hoch emotional mit den Betroffenen identifizieren können. Wir müssen diese Geschichten hören, um die Welt ein bisschen besser zu verstehen. Positives geht oft unter, weil unsere Aufmerksamkeit begrenzt ist. Ich plädiere deshalb für einen inklusiveren Journalismus. Ich habe kürzlich mit einer Freundin telefoniert, die mir erzählte, dass sie 2021 zu wenig Sonne gesehen hat. Ich denke das auch. Und dann erinnere ich mich zurück, und denke an sehr viel leisen, hellen Horizont.

2021 – ein positiver Jahresrückblick

Während 2020 von Kontaktbeschränkungen und Ungewissheit geprägt war, ist 2021 das Jahr der Impfung.</strong>Es geht häufig im Unmut über die aktuelle Situation unter, aber in diesem Jahr wurde die mRNA-Technologie zum ersten Mal flächendeckend eingesetzt, was ein Durchbruch für die Wissenschaft und Forschungsgrundlage für viele andere Medikamente und Impfstoffe ist. Mainz hat sich zu einem deutschen Wissenschaftsknoten entwickelt und Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin wurde der deutsche Zukunftspreis verliehen. Weltweit wurden, Ende Dezember dieses Jahrs, fast 50% aller Menschen mit insgesamt 8,81 Milliarden Impfdosen geimpft. Das ist zu wenig für eine Herdenimmunität. Sicherlich ist die globale Impfstoff-Diplomatie ein Problem. Und trotzdem hat die Impfung laut Weltgesundheitsorganisation bis zum Ende dieses Jahres in Europa fast einer halbe Millionen Menschen das Leben gerettet.

Ein gutes Jahr fürs Klima

Wenn es um Rettung geht schließen sich auch die Klimaaktivist:innen von Fridays for Future an. Anfang dieses Jahrs wurde die Verfassungswidrigkeit des Klimaschutzgesetzes als Schritt in die 1,5 Grad Richtung gefeiert. Der sozio-ökologischen Transformation, die es jetzt braucht, hat sich die neue Ampel-Regierung verschrieben. An der Umsetzung der Klimaneutralität bis 2050 soll gearbeitet werden, diese Legislaturperiode nicht mit müdem ‚weiter so‘, sondern mit dringend nötigem Aktivismus. Die USA als wichtiger Treibhausgas-Emittent ist dem Pariser Klimaabkommen wieder beigetreten und in Spanien hat die Wind- die Atomkraft als führende Energiequelle abgelöst. Der UN-Menschenrechtsrat hat im Oktober beschlossen, dass alle Menschen das Recht auf eine gesunde und nachhaltige Umwelt haben, der US-amerikanische Bundesstaat New York hat dieses Recht sogar in die Verfassung aufgenommen. Es klingt in Betracht der Flutkastrophe vom Sommer absurd, aber 2021 war ein wichtiges Jahr, dass die Dringlichkeit der Klimakatastrophe nicht nur niedrigschwellig spürbar gemacht, sondern sie auch politisch endlich wirklich auf die Agenda gesetzt hat.

Mehr Vielfalt, weniger Machtmissbrauch

Während sich patriarchale Strukturen in einigen Bereichen auflösen, stehen inklusive Angebote zur Übernahme des Verantwortungsvakuums bereit. Das Katapult-Magazin, ein populärwissenschaftliches Medium aus Greifswald, das ich für seinen kritisch-unaufgeregten Journalismus sehr schätze, hatte in diesem Jahr erstmalig mehr Abos als die BILD am Sonntag. Julian Reichelts sexistische Übergriffigkeit und journalistische Hetze wurde endlich mit seinem Rauswurf bestraft und Sebastian Kurz muss sich nach Amerika absetzen, weil er sein Gesicht in Europa nach dem Korruptionsskandal im Herbst verloren hat – spätestens dann. Auch Andreas Scheuer und Jens Spahn dürfen Euros nicht mehr als staatliches Spielgeld in unauffindbare Mauts und ungeeignete Masken stecken und Donald Trump ist dauerhaft auf Twitter gesperrt. Die Weltpolitik ist gleichzeitig diverser, und vor allem weiblicher geworden. Es hat mich besonders gefreut, dass die Welthandelsorganisation zum ersten Mal von einer Frau geführt wird. Dass Ngozi Okonjo-Iweala auch noch aus Nigeria stammt ist zwecks Repräsentation des ‚globalen Südens‘ und Anerkennung von Bipoc besonders großartig. Auch der Deutsche Bundestag ist weiblicher geworden, wenn auch nur um wenige Prozent. Mit Tessa Ganserer und Nyke Slawik (Bündnis 90 – DIE GRÜNEN) sitzen zum ersten Mal zwei Transfrauen im Parlament; und Estland, Honduras, Samoa, Schweden, Tansania und Tunesien werden erstmalig von einer Frau geführt. Außerdem hat die Europäische Union seit diesem Jahr eine Anti-Rassismus Beauftragte.

Meine Oma sagt immer, dass Fortschritt sich wie eine Schnecke bewegt: Langsam aber stetig. Ich finde es destruktiv, bei jeder Entwicklung ihre Geschwindigkeit zu beurteilen, ohne ihr Ergebnis anzuerkennen. Ja, vieles ist überfällig. Aber diese Aussage ist wenig inspirierend für tatsächliche Veränderung.

Die Welt wird bunter, auch wenn Viktor Orban, zu seiner Schande, verbietet über Homosexualität zu informieren. Ich erinnere mich gerne an die sportliche Solidarität, als Deutschland bei der EM gegen Ungarn gespielt hat und sämtliche Stadien in Regenbogen-Farben leuchteten. Das verklärte ‚normal‘ scheint immer weiter in die Subjektivität zu rutschen und Minderheiten werden nicht nur toleriert, sondern dafür gefeiert, dass sie den Mut haben, sich zu zeigen und frei zu entfalten. 2021 haben auch Chile und die Schweiz die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt und zwei Kölnerinnen haben das erste inklusive Wimmelbuch veröffentlicht. Es wird nicht mehr der weiße cis-Mann Willy gesucht, der sich zwischen Mutter-Vater-Kind Familien durch die weiße Stadt treiben lässt, sondern Mimi, die mit Menschen aus aller Welt und allen Religionen, mit und ohne Beeinträchtigung, friedlich zusammenlebt.

Stigma ist so 2010

Generell wird mehr über psychische Erkrankungen und Beeinträchtigungen gesprochen. Vor allem die Pandemie hat Depressionen medial in den Fokus gerückt und die Frauen- und Mutterrolle, zumindest als zu überdenkendes Konzept in den öffentlichen Raum gestellt. Deutsche Gebärdensprache darf seit diesem Jahr ein reguläres Schulfach werden und wird sogar von der Kultusministerkonferenz als dieses empfohlen. Wir neigen dazu, diese Ereignisse zu vergessen. Zu sehr regen uns Nachrichten über Unfälle und Katstrophen auf. Das ist unserem Überlebenssinn geschuldet und deshalb in Ordnung, wir dürfen uns selbst aber ab und zu an Perspektive erinnern. Ich war kürzlich in einem Naturkundemuseum und wurde ganz traurig, weil einige der ausgestellten Tierarten als bedroht oder ausgestorben deklariert waren. Wir hören vom Bienensterben und toten Korallenriffen und plötzlich scheint es, als neige sich die Artenvielfalt dem homogenen Ende. Biodiversität ist unsere Lebensgrundlage und leider lässt es sich nicht leugnen, dass der Mensch das Tier, vor allem auf Grund der veränderten Nutzung von Fläche, wenn er so weitermacht, verdrängt. Es wird aber immer mehr für den Naturschutz getan. Bis 2030 sollen knapp 30% des Planeten unter diesem Schutz stehen. Vor allem während der Pandemie und einer geringeren Auslastung des Tourismus-Sektor konnten sich einige Tiere die Fläche zurückholen, die der Mensch für sich erschlossen hatte. Die Elefanten und Giraffen Bestände in Kenia wachsen stetig und der Thunfisch, der sibirische Tiger, der europäische Bison und die Saiga Antilope sind in diesem Jahr von der Liste der bedrohten Tierarten verschwunden. In Maßweiler wurde die erste deutsche Auffangstation für Luchse errichtet, weil sich im Pfälzerwald mittlerweile mehr als 20 Tiere heimisch gemacht haben. Die EU hat endlich den Elfenbeinhandel verboten und in Israel darf nicht mehr mit Pelzen gehandelt werden.

Mehr Aufrichtigkeit, Information und Selbstbestimmung

Es gibt noch viel mehr gute Neuigkeiten, wir müssen uns nur auf die Suche nach ihnen machen und offen dafür sein, sie aufzunehmen, auch wenn wir das medial anders gelernt haben. Zum Abschluss möchte ich noch Wenige teilen, die mich besonders gefreut haben. Paragraf 219a wird abgeschafft. Ärzt:innen ist es ab demnächst erlaubt, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, was elementar für die Selbstbestimmung der Frau ist! Außerdem wurde nach vielen Jahrzehnten und über 100 Kandidaten der erste wirksame Impfstoff gegen Malaria entwickelt, der in der letzten klinischen Studie drei von zehn schweren Verkäufen verhindern konnte, was großartig ist, weil alle zwei Minuten ein Kind an dieser Krankheit stirbt. Außerdem freue ich mich sehr, dass Britney Spears die Vormundschaft von ihrem Vater los ist und dass Australiens Regierung endlich Reparationszahlungen an die Verbliebenen der ‚Stolen Generation‘ zahlt. Generell halte ich es für ein wichtiges Zeichen im verantwortungsvollen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit, dass indigenen Bevölkerungsgruppen Land zurückgegeben und Macht angeboten wird. Neuseeland hat in diesem Jahr erstmalig ein Staatsoberhaupt mit indigenen Wurzeln gewählt – übrigens eine Frau.

Dieser Text darf keineswegs die schrecklichen Ereignisse des Jahres verdrängen, noch können sich Ereignisse mit globaler Auswirkung gegenseitig die Waage halten. Ich schreibe auch lieber über Missstände, weil wir alle dazu veranlagt sind, nach Optimierung und Entwicklung zu streben. Trotzdem möchte ich dazu animieren, ab und zu innezuhalten und sich zu fragen, was sich im rosa Säckchen befindet. Im Politischen, aber auch im Privaten. Denn mit Dankbarkeit und ein bisschen Demut lässt sich die Welt tatsächlich ein bisschen besser machen.

Ich bin gespannt, welche schönen Neuigkeiten 2022 für uns bereithält. Auf einige haben wir zum Glück ja selbst einen erheblichen Einfluss.

Foto: Unsplash

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