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Ich bin ein Star holt mich hier raus

Ich bin ein Star holt mich hier raus


Vergangenes Semester musste ich einen Essay über Atomwaffen schreiben, und ob Deutschland welche zur Abschreckung besitzen sollte. Ob Auf-, oder Abrüstung geostrategisch sinnvoller wäre und wie ich generell über Massenvernichtungswaffen denke. Ich studiere Friedensforschung. Für mich waren diese Gedankenexperimente ganz einfach zu führen. Natürlich Abrüstung, hallo?!

Das war letztes Jahr im August. Die Taliban haben es sich währenddessen in Kabul schon wieder recht gemütlich gemacht und Präsident Lukaschenko hat in Belarus oppositionelle Aufstände gewaltvoll niederschlagen lassen. Die Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze waren Top-Nachrichtenthema, Putins Truppenaufmärsche an ostukrainischen Grenzgebieten eher Nachrichten fürs Mittagsmagazin. Ich war im Dezember noch in Sankt Petersburg und fand’s eigentlich sehr schön.

Vor Kurzem bin ich durch Zufall wieder über meinen Atomwaffen-Essay gestolpert und mir wurde ziemlich schlecht beim Lesen. Ich habe mit der globalen Schutzverantwortung und dem Trend zur solidarischen Weltgemeinschaft für Pazifismus argumentiert. Während ich das geschrieben habe – im August vergangenen Jahres – haben sämtliche Autokraten ihre Aggressivität leise vorbereitet (Putin) oder mehr oder weniger laut durchgeführt (Xi, Lukaschenko). Von Merkels unaufgeregter Appeasement-Politik geprägt konnte ich mir damals trotz überproportionaler Präsenz russischer Truppen an der ukrainischen Grenze einfach nicht vorstellen, dass wir in Europa, einem Kontinent, der so gerne als sichere Festung portraitiert wird, einen Krieg erleben könnten. Medial wurde bis vor Kurzem missachtet, dass sich Putin schon seit Jahren durch die Solidaritätswaben unserer demokratischen Staatengemeinschaft frisst und die pazifistische Utopie damit von innen aushöhlt – nicht erst seit 2014.

Ich muss so weit ausholen, weil ich keinen anderen Einstieg finde, weil ich immernoch und jeden Tag wieder fassungslos und traurig und wütend bin, und weil ich mich nicht daran gewöhnen will, dass der Krieg in der Ukraine in Zukunft zu unserem Alltag gehört. Mein Frust über die Langsamkeit Scholz‘ zum Thema Waffenlieferung hat sich nicht mit der Ringtausch-Idee verflüchtigt, sondern erst gestern, nachdem im Bundestag mehrheitlich entschieden wurde, dass Deutschland nun doch schwere Waffen an die Ukraine liefern wird. Nicht alle Menschen freut diese Notwendigkeit. Wenige Stunden nach ihrer Bekanntgabe tauchte ein offener Brief an Olaf Scholz auf, indem Prominente vor einem dritten Weltkrieg warnen, und den Bundeskanzler bitten, zu seiner besonnenen Haltung zurückzukehren. WTF?!?!?!

Ich frage mich, ob diese Menschen Nachrichten konsumieren. Ob sie den Namen Butcha schon mal gehört haben und ob sie wissen, was gerade im Asow-Stahlwerk passiert. Ich frage mich, wie weltfremd und arrogant man sein kann, in einem offenen Brief nach einem Kompromiss zu bitten, der für beide Seiten akzeptabel ist. Hier streiten sich keine Kinder im Sandkasten um den gelben Bagger, hier sterben jeden Tag unzählige Menschen. Die Ukraine möchte existieren und international als souveräner Staat anerkannt werden. Russland möchte das nicht. Russland ist das Kind im Sandkasten, das ein Monopol auf Bagger hat. Und die anderen Kinder totschlägt, wenn sie ihm nicht ihr Spielzeug schenken.

Lars Eidinger und Alice Schwarzer und Juli Zeh und viele andere schreiben, dass sie Angst vor einem möglichen dritten Weltkrieg haben (you don’t say), wenn Deutschland mit der Lieferung schwerer Waffen zur Kriegspartei wird. Sie gehören zu der Fraktion Mensch, die Zeitenwende als Worthülse benutzt, und hofft, dass das auch politisch so bleibt.

Intellektuell ist, wer sich auf einem oder mehreren Themengebieten überdurchschnittlich gut auskennt und wer sich dieses Wissen mit Aufwand erworben hat. Das sagt der Duden. Einige der Verfasser des offenen Briefes beschreiben sich selbst als eben solche. Das klingt aber auch wirklich schön, jeder ist gerne ein bisschen schlauer, als sein Gegenüber. Vor diesem Hintergrund erschließt es sich mir nicht, warum niemand der 28 den Brief auf seine inhaltliche Richtigkeit überprüft hat. Die 28 scheinen zu beschäftigt gewesen zu sein, den Brief mit Pathos zu füllen, mit manipulierender Pseudo-Moral und langen Sätzen, die man erst beim dritten Mal lesen versteht. Deutschland wird nicht zur Kriegspartei, wenn es schwere Waffen liefert. Waffenlieferungen sind nach dem völkerrechtlichen Grundsatz der qualifizierten Neutralität legitim. Qualifizierte Neutralität leitet sich vom Neutralitätsrecht ab. Dieses beruht auf dem Haager Abkommen von 1907, in dem das Deutsche Reich und viele andere Staaten Regeln für den Kriegsfall beschlossen haben. Die Pflicht, sich rauszuhalten, wenn zwei Staaten miteinander Krieg führen, ist das Neutralitätsrecht. Die 28 hätten also Recht, würde dieser Krieg unter völkerrechtlichen Bedingungen geführt. Das wird er aber nicht. Die Vereinten Nationen haben Russland als Aggressor eingestuft, das Völkerrecht wurde schon mehrmals gebrochen, die Untersuchung nach Kriegsverbrechen findet in diesem Moment statt. Das Neutralitätsrecht greift also nicht mehr. Unter bestimmten Bedingungen dürfte Deutschland sogar aktiv in den Krieg eingreifen, ohne selbst Kriegspartei zu werden.

Die Erklärung der 28 ist also hinfällig. Außerdem fällt sie allen Ukrainer:innen in den Rücken, weil sie eine Kontinuität des Krieges in Kauf nimmt, um potentiell Schlimmeres zu vermeiden. Putin hat den NATO-Staaten schon zu Beginn des Krieges unterschwellig mit atomaren Schlägen gedroht, Putin ist irrational und unberechenbar. Potenziell Schlimmeres passiert, wenn Putin das will und erscheint mir willkürlich und unabhängig von Deutschlands Verhalten. Ganz davon abgesehen haben Frankreich und die Niederlande, Estland und die Slowakei bereits schwere Waffen an die Ukraine geliefert – sie sind auch Mitglieder der EU und auch der NATO.

Lieber Lars, liebe Alice, liebe alle,

ich habe auch Angst vor einem dritten Weltkrieg. Ich habe das nicht erst, seitdem Deutschland der Ukraine die Lieferung von schweren Waffen zugesichert hat, sondern seit dem 24. Februar. Einige Menschen plagt die Angst sicherlich seit der Annexion der Krim im Jahr 2014. Ich habe aber noch mehr Angst davor, zusehen zu müssen, wie Putin im Sandkasten weiter Kinder tötet. Ich habe Angst um Deutschlands Integrität und um unseren nationalen Wertekompass. Wenn ihr mit historischer Verantwortung argumentiert, dann manövriert ihr euch selbst ins Aus – denn die deutsche Russland-Politik, das Zusehen im Kaukasus-Krieg 2008 und die Appeasement-Politik seit Ende des Kalten Krieges machen uns mit verantwortlich für den Krieg und aus diesem Grund auch mitverantwortlich für sein Ende. Ohne schwere Waffen kann sich die Ukraine nicht verteidigen – sich und uns. Denn die Ukraine verteidigt nicht nur ihre Souveränität, sondern steht auch als Türsteher vor der Europäischen Union.

Ich frage mich, wie hoch man seine Nase tragen kann, seinen Prominenten-Status zu missbrauchen, um öffentlich nach persönlicher Sicherheit zu betteln, während ein ganzes Land verblutet. Die Angst um den hart erkämpften Wohlstand muss groß sein, wenn dafür der Angriff Putins inklusiver einem Tablett voll Kriegsverbrechen in Kauf genommen wird.

Foto: unsplash