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Jana-Sophie

Im demokratischen Irrgarten


Wir haben uns mittlerweile daran gewöhnt: An Maskenverweigerer und Telegram-Realitäten, an Querdenker-Demos und die abwegigsten Verschwörungstheorien. Meinungsfreiheit ist ein dehnbarer Begriff. Das ist gut und wichtig für eine Demokratie. Es gibt aber Grenzen. Wenn das neue Infektionsschutzgesetz mit Hitlers Ermächtigungsgesetz von 1933 verglichen wird, wenn die AfD Querdenker in den Bundestag einschleust, wenn sich Demonstrantin Jana mit Sophie Scholl vergleicht – wenn Meinungsfreiheit zu Volksverhetzung wird, dann muss das aktiv verurteilt werden.

Ein Text für die Demokratie

Volksverhetzung ist nach §130 Strafgesetzbuch verboten. In dieser Woche haben sich Straftaten dieser Art gehäuft.

Mittwoch, 18. November, Berlin Mitte: Ein Kurzvideo geht viral. Wirtschaftsminister Peter Altmaier wird im Bundestag von einer filmenden Frau bedrängt. Sie hält den Mindestabstand nicht ein, auf dem Video lässt sich nicht erkennen, ob sie einen Mund-Nasen-Schutz trägt. „Er hat kein Gewissen“, sagt sie immer wieder. Menschen haben das Recht, den Bundestag, das Herz einer Demokratie, zu besuchen. Die AfD hat Menschen eingeschleust, die diese Institution zu ihren Zwecken missbrauchen. Sie sägen die Demokratie an, die AfD schenkt ihnen das Werkzeug, Peter Altmaier sagt: „ihr seid eine Minderheit“. Kommunikationswissenschaftlerin Noelle-Neumann dreht sich wohl im Grab um. Wenn die stille Minderheit so laut ist, dass sie die schweigende Mehrheit übertönt, dann ist das höchst gefährlich. Währenddessen demonstrieren auf den Straßen Berlins tausende Menschen, ohne Abstand und ohne Maske. Sie betiteln sich selbst als Querdenker, „rechtsextremes, linksextremes, faschistisches, menschenverachtendes Gedankengut hat in unserer Bewegung keinen Platz“, steht auf der offiziellen Webseite der Gruppierung Querdenken 711-Stuttgart, die das Epizentrum der Bewegung bildet. Wissen diese Menschen, zu wem die rot-schwarzen Fahnen gehören? Sehen die Demonstrierenden die verschwommenen NS-Tattoos auf den Körpern der Rechtsradikalen? Wissen die Menschen, dass sie neben NPD- und IB- Mitgliedern marschieren? Kinder sind dabei. Es sind die Kinder, die ohne Maske in die Schule geschickt werden, die Projektionsfläche besorgter und wütender Eltern sind. Es ist nicht die Maske, die ihre Kinder krank macht, es sind die Wasserwerfer der Polizei, die Wut auf den Straßen, das toxische Gedankengut am Abendbrot-Tisch. Die Mischung aus Hippies, Impfgegnern, Nazis und Besorgten Bürgern ist gefährlich, die Bewegung lässt sich nicht in eine Schublade stecken, sie brodelt und droht überzulaufen, sie überschwemmt die Demokratie und spaltet die Gesellschaft.

Samstag, 21. November, Stuttgart: Jana aus Kassel trägt einen Wintermantel.

Ihre blonden Haare hat sie hinter die Ohren gestrichen. Das sind keine geheimen Informationen, das Bild wird von sämtlichen Nachrichtendiensten getitelt. „Ich bin 22 Jahre alt. Genau wie Sophie Scholl, bevor sie den Nationalsozialisten zum Opfer fiel. (…) Ich fühle mich wie Sophie Scholl, weil ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin.“ Im Video hört man einige Wenige jubeln. Weiß Jana, dass sie in diesem Moment gegen §130 StGB verstößt? Weiß Jana, dass Sophie Scholl gegen eine Diktatur gekämpft hat, nicht gegen eine Demokratie? Und weiß Jana, dass zwischen 1941 und 1945 über 5 Millionen Juden ermordet wurden? Jana kann wahrscheinlich nichts dafür. Vielleicht hat sich ihr Gehirn von zu viel Konsum des Querdenker-Salats umgestülpt, ihre Synapsen sind neu verkapselt, Xavier Naidoo sitzt in ihrem Hypocampus und singt. Als ein Ordner sie auf die Verharmlosung des Holocaust aufmerksam macht und die Rede abbricht, fängt Jana an zu weinen. Mir tut sie fast ein bisschen leid, je öfter ich mir das Video anschaue. Warum werden Menschen wie Jana zu Querdenkern?

Suche Identität, biete Widerstand

Bewegungen leben von Zugehörigkeit, von gemeinsamer Identität und von geteilten Werten. Was die Querdenker vor allem eint, ist Angst und ein Vertrauensverlust in das System. Auch wenn nicht alle Querdenker auch Verschwörungstheoretiker sind, hängen diese beiden Phänomene zusammen. Schuldige werden gesucht, neue Realitäten konstruiert, Abwegigkeiten als Fragen in die Gesellschaft geworfen. Kann denn jemand belegen, dass Corona nicht von Bill Gates kommt? Ich stell ja nur Fragen. So oder so ähnlich verhält sich die ideologische Rhetorik. Fragen stellen, ohne Antworten geben zu können. Auch wenn viele von ihnen es nicht wissen – damit bedienen sich Verschwörungstheoretiker einer wichtigen sozialwissenschaftlichen Erkenntnis. Schon Karl Popper, ein Philosoph der geisteswissenschaftlichen Historie, erklärte, dass sich Theorien niemals komplett bestätigen lassen. Sie gelten nur so lange als richtig, bis jemand sie falsifiziert. Ungewissheiten lassen sich nur schwer falsifizieren, Gefühle überhaupt nicht. Krisen sind der ideale Nährboden für chronische Systemwut, Unzufriedenheit und Angst.

Angst spaltet

Man kann darüber lachen und das, was seit Monaten in Deutschland passiert als verrückt abtun. Damit spielt man diesen Menschen aber in die Hände. Abgehängte fühlen sich dann noch abgehängter und die Kluft zwischen Fronten, von denen niemand so genau weiß, aus wem sie eigentlich bestehen, werden größer. Ich würde gerne verstehen, was die Menschen so besorgt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand gerne in einer Diktatur leben möchte. Oder gerade eine andere, als die deutsche Regierung bevorzugt. Wir müssen nur ein bisschen über den Tellerrand schauen: in die Türkei, nach Russland, nach Bergkarabach, Belarus. Einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen ist kein Kriegsdienst. Es ist gefährlich, mit dieser Rhetorik um sich zu werfen.

Vielleicht sollten wir in den Dialog gehen. In unserem Bekanntenkreis nicht mehr weghören, wenn die Gefahr des Virus in einem Nebensatz in Frage gestellt wird. Nicht mehr lachen, über Menschen, die ein Fliegengitter vor dem Mund tragen, um den Infektionsschutz ins Lächerliche zu ziehen. Wir müssen auch diese Menschen ernst nehmen, weil sie genauso zu unserer Gesellschaft dazugehören, wie die Toilettenpapier-Hamster und die, die sich seit März nicht mehr aus dem Haus trauen. Eine Pandemie kann nur gemeinsam eingedämmt werden: Und gemeinsam, das sind wir alle.

Gleichzeitig müssen wir die Demokratie und die Geschichte schützen. Querdenker-Demos sind kein Ersatz für ausgefallene Feste oder ein Ausflug gegen Langeweile. Rechtsextremismus ist nicht weniger gefährlich, nur weil er sich im Schutz von tanzenden Impfgegnern bewegt. Wir müssen die Grenzen zwischen Meinungsfreiheit und Volksverhetzung wieder klarer ziehen. Und wir müssen die Querdenker zurückholen. Ich bin auch müde von diesem Jahr. Wir sind das alle. Aber damit wir unsere Freiheit wieder leben können, müssen wir geduldig sein und uns selbst zurücknehmen. Wir haben das nie gelernt. Jetzt ist eine gute Zeit dafür. Vertrauen ist keine Schwäche, sondern die größte Stärke, die man einer Demokratie schenken kann.

Foto: Laurent Noichl, freier Fotograf, Berlin