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Julian Assange

Ein Kampf im Namen der Pressefreiheit


„Mich regt das so auf“, sage ich, als ich den Prozessbeginn des WikiLeaks Gründers Julian Assange mitverfolge. Ich wiederhole den Satz wie ein Mantra, meine Wut wird aber nicht weniger. Ein Gefühl von bitterer Ohnmacht strömt durch meinen Körper, dieser Prozess stinkt. Es stinkt, wenn die Demokratie angegriffen wird und die Rechtsstaatlichkeit, das System fault von innen und wir halten uns die Nase zu. Ich fühle mich verbunden zu Assange und ich fühle mich ebenfalls angegriffen: Julian Assange und seine Enthüllungen stehen stellvertretend für alle Whistleblower und Investigativjournalist*innen, für alle Menschen, die dazu beitragen, die Mächtigen zu kontrollieren und die Demokratie zu schützen. Was gerade passiert, darf nicht in Kellern irgendwelcher Botschaften geschehen, in dunklen Gerichtssälen und hinter verschlossenen Türen. Der Fall Julian Assange ist verstrickt, ein Jungle aus jahrelanger Arbeit, ein länderübergreifendes Bürokratiemonster. Der folgende Text soll erklären, was gerade passiert und Aufmerksamkeit schaffen, um wenigstens das Fenster zu dem Raum zu öffnen, in dem Unrecht geschieht. Wir sind alle betroffen.

Ein Video, wie ein Ego-Shooter

Julian Assange ist 48 Jahre alt und „investigativer Journalist, australischer Politaktivist, ehemaliger Computerhacker, Programmierer und Gründer sowie Sprecher der Enthüllungsplattform WikiLeaks“, sagt Wikipedia. Was bedeutet das? Investigativjournalist*innen beschäftigen sich vor allem mit Dingen, die im Verborgenen geschehen und für die Allgemeinheit interessant sind. WikiLeaks ist eine Plattform, um diese Inhalte an die Öffentlichkeit zu bringen. In demokratischen Staatsformen gilt die Meinungs- sowie die Pressefreiheit. Journalist*innen steht bei der freien Meinungsäußerung ein besonderer Schutz zu, da sie als Teil des Mediensystems die Mächtigen kontrollieren sollen. Medien als vierte Gewalt – das ist keine Plattitüde, sondern ein Schutz vor Machtmissbrauch und Manipulation der Öffentlichkeit. Sollte also in unser aller Sinne sein, wollen wir nicht wie betäubte Roboter hinter politisch motivierten Zielen hinterherhecheln. Im April 2010 hat Julian Assange ein Video veröffentlicht, das die Sicht auf den Irakkrieg 2003 massiv verändert hat. Es zeigt eine US-amerikanische Helikopterbesatzung, die willkürlich auf Zivilst*innen und Journalist*innen schießt, weil diese für Feinde gehalten wurden. Ich habe das Video gesehen und hätte am liebsten auf die Tastatur meines Laptops gekotzt, ich wusste nicht, dass es Ego-Shooter auch in der Realität gibt. Sadam Hussein wurde gestürzt, der Irak besetzt, die USA gefeiert, das Video kannte niemand. Wenige Monate später veröffentlichte Assange fast 400.000 weitere geheimdienstliche Dokumente über den Irak-Krieg, 77.000 Dokumente über den Afghanistan-Krieg und Weiteres. Die NSA setzte ihn daraufhin auf die „Manhunting-Liste“. Neben Terroristen und Mörder.

Im zeitlichen Verlauf würden nun, 2012, die Vergewaltigungsvorwürfe zweier Frauen aus Schweden folgen – ich lasse das aus – weil es darum nicht geht, ich schreibe über Julian Assange, als Instrument und Sinnbild, und zwischen all den Anklagen und Verschwörungstheorien fühle ich mich zu verschoben informiert, um Halbgares weiterzugeben.

Ein Kläger, der zum Angeklagten wird

Assange flieht also in diesem Jahr nach London, in die ecuadorianische Botschaft, die ihm politisches Exil gewährt und die er sieben Jahre nicht verlässt. Im Exil leben Menschen, die sich im eigenen Land verfolgt fühlen, und deshalb nicht zurückkehren können. Wer verfolgte Assange?

Schweden: wegen der Vergewaltigungsvorwürfe, zweitrangig, vor allem die USA hoffte auf eine Auslieferung. Assange wurde wegen Verschwörung angeklagt. Er soll gegen das Spionage-Gesetz von 1917 verstoßen und Staatsgeheimnisse in die Hände von Feinden gelegt haben. Es scheint, als würde der Staat seine eigene Verfassung nicht kennen: Ein Zusatzartikel erlaubt, auf illegale Weise erlangte Informationen zu veröffentlichen – lediglich der Diebstahl und das Hacken sind verboten. Das ist den USA aber egal, denn sie haben Macht und Assange nicht. Antiamerikanismus passt nicht in das patriotische Weltbild, Amerika first führt nicht willkürlich Kriege, Amerika first sorgt für seine Bürger*innen, Amerika first ist das Land, in dem Tellerwäscher zu Millionären werden. Und Whistleblower im Mülleimer entsorgt. Whistleblower sind das Ergebnis von Umständen, die Folge von Fehlverhalten, NICHT die Ursache. Der Fall Assange zeigt was passiert, wenn Missstände öffentlich aufgedeckt werden und der Angeklagte, in diesem Fall die amerikanische Regierung, so unter den Folgen, in diesem Fall Vertrauensverlust der Bürger*innen, Vorwurf des Machtmissbrauchs etc., leiden würde, dass sie den Spieß umdreht. Der Ankläger wird hier zum Angeklagten. Und wir schauen zu.

Menschenverachtende Menschenjagd

Mittlerweile sitzt Julian Assange in Belmars, London, im Hochsicherheitsgefängnis. Nicht wegen der Amerikaner, sondern wegen der Briten, die ihm vorwerfen, gegen Kautionsauflagen verstoßen zu haben. Er weiß, dass ihm über 100 Jahre Gefängnis drohen, wenn die Briten ihn an die USA ausliefern. Wo sind all die Fridays for Future Aktivist*innen? Die zu Beats uns Bässen fleißig Demonstrierenden, die Wütenden, die Aufmerksamen – wo sind die Schützer der Demokratie? Assange hat seinen Job gemacht. Er hat die Öffentlichkeit, UNS, über Missstände informiert. Über das jahrelange Versagen einer Regierung. Es ist jetzt unser Job, nicht wegzuschauen und dafür einzustehen, was Assange begonnen hat. Der Kampf für echte Demokratie, für wahre Rechtsstaatlichkeit, und für eine Pressefreiheit, die über das Wohlwollen der Regierung hinausgeht. Mit der Anklage gegen Assange lenkt die USA von massiven Kriegsverbrechen ab. Sie instrumentalisiert Assange, weil wir alle gelernt haben, dass es einen Feind geben muss, der angeklagt werden kann. Assange wird gehandelt, wie ein Schwerverbrecher, schlimmer noch, wie ein Objekt. Während er in der ecuadorianischen Botschaft auf 15 Quadratmeter sieben Jahre lang gehaust hat, wurde er von einer spanischen Firma, von der CIA beauftragt, ausspioniert. Er wird nicht körperlich gefoltert, aber Assange wird psychisch ausgehöhlt. Seine Menschenwürde liegt immer noch in der Botschaft und weint. An ihm wird Rufmord begangen, eine Menschenjagd.

Ein Kampf gegen den kritischen Journalismus

Mich macht das Alles nicht nur deshalb so wütend, weil die Ungerechtigkeit auf dem Tablett serviert wird und wir uns nach dem Essen noch die Finger lecken, mich macht es vor allem wütend, weil es ein offener Angriff auf die Medien ist. Julian Assange ist nicht der einzige Whistleblower, der im Gefängnis sitzt. Auch Edward Snowden, der sämtliche Überwachungspraktiken der CIA aufdeckte, und sein Kollege Glenn Greenwald sitzen in Haft. Die USA, allen voran Donald Trump, der die Medien gerne als „Feinde des Volkes“ bezeichnet, haben dem kritischen Journalismus den Kampf angesagt. Weil radikale Transparenz Missstände aufdeckt. Natürlich passt das der Regierung nicht. Der Krieg gegen Julian Assange ist ein Stellvertreterkrieg: Gegen die Medien im Allgemeinen, und jede*n einzelne*n Journalist*in im Speziellen, die/der sich nicht als Sprachrohr der Regierung sieht. Die Welt ist ver-rückt. Rechtsradikalismus gehört in den Alltag von Industrienationen, die Zeit für so einen Scheiß haben, wie Zähneputzen. Zivilist*innen werden physisch angegriffen und umgebracht, die Politik sucht verzweifelt nach Verantwortung, rechtes Gedankengut füllt luftleeren Raum, die Demokratie wackelt, und wir alle wackeln mit. In grauen Zeiten brauchen wir als Gesellschaft Ordnung und Orientierung. Wir brauchen Information und Aufklärung. Die Presse, ihre Unabhängigkeit und Freiheit, ist das wichtigste Organ, das wir haben. Mit ihrer Aushöhlung und Durchwanderung, rechts oder links, braun oder rot, ist unsere Demokratie in Gefahr. Im Kommunismus und im Nationalsozialismus wurde die Presse instrumentalisiert. Geschichte wiederholt sich. Wir müssen aus unseren Fehlern lernen. Und wir müssen die freie Presse schützen. Ich weiß nicht, wie es um Julian Assange steht. Sein Vater spricht von einem „katastrophalen Zustand“. Ich weiß nicht, ob die Briten ihn an die Amerikaner ausliefern. Und ich weiß nicht, ob seine Haftstrafe reduziert wird. Assange ist ein gebrochener Mann. Und jeder Tag, den er im Gefängnis sitzt, ist ein Tag zu viel. Der Fall Assange sollte uns nicht einschüchtern, sondern ermutigen, für das einzustehen, was richtig ist. Niemand muss mit politischer Willkür leben. Niemand darf unsere Menschenrechte einschränken, die Presse MUSS frei sein.

Dieser Text weist definitiv Lücken auf. Ich habe mit den Enthüllungsschriften des Spiegels, der New York Times und der britischen Zeitung The Guardian sowie der Dokumentation ‚Risk‘ gearbeitet. Über den Fall Assange ließen sich Bücher schreiben, eine unendliche Geschichte, weil sie auf so viele Schwachstellen des Systems aufmerksam macht. Ich habe mich bewusst für eine kurze Zusammenfassung entschieden, weil ich im undurchsichtigen Assange-Jungle mit dem Ziel des Aufmerksammachens, nicht alle verlieren wollte. Und weil ich so vieles selbst noch nicht verstehe. Zum Schluss möchte ich aus „Risk“ zitieren. Als Assange von Regisseurin Laura Poitras gefragt wird, ob er wieder so handeln würde, trotz all der Konsequenzen, sagt er, so ruhig und ein wenig autistisch, wie er auf mich wirkt: „The risk is high, and the opportunity is high. What is the risk of just sitting here?“ Das trifft nicht nur auf den Kampf für die Pressefreiheit zu, sondern immer. Ungerechtigkeit ist da, um uns zu aktivieren, sie aus der Welt zu schaffen.

Foto: Unsplash