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Keine Klausurenphase in Aleppo

Keine Klausurenphase in Aleppo


Der Februar ist der anstrengendste Monat im Jahr finde ich. Nicht wegen Fasching oder weil man jedes Jahr neu überlegen muss, ob es den 29. gibt. Der Februar ist der anstrengendste Monat, weil vor ihm schon Januar, Dezember, November und Oktober anstrengend waren. Weil wir seit fünf Monaten mit hochgezogenen Schultern wie Pinguine durch den Regen laufen und unsere Nase sehnsüchtig Richtung Sonne strecken, wenn sie sich dann mal blicken lässt. Winter macht müde und das Grau der Jahreszeit frisst sich irgendwie in unser System und macht uns ein bisschen trauriger, als wir es sonst sind.

Ich habe das Gefühl, dass es in diesem Jahr besonders schlimm ist. Wahrscheinlich habe ich das Gefühl jedes Jahr, weil ich während einem schönen Sommer immer wieder vergesse, wie drückend Vitamin-D-Mangel auf den Körper wirkt. Mein Umfeld spiegelt mir diese Gedanken. „Alle sind entweder krank, müde, depressiv oder zu spät“, hat mein Chef kürzlich gesagt. An diesem Tag war ich zum Glück pünktlich. Ich arbeite in einer Bibliothek und sehe jeden Tag viele Menschen und viele Bücher. Die Menschen, die sich mühsam durch die Drehtür schieben, sehen tatsächlich müder aus als sonst. Die Klausurenphase im Winter setzt allen zu. Am müdesten sind die Juristen, die ihre Gesetze in handtaschenartigen Stoffhüllen durch die Gegend tragen. Danach kommen die Mediziner und die Geisteswissenschaftlerinnen mit Schlafstörungen. Ich drehe mich auf meinem Drehstuhl und winke I., der jeden Tag zum Flaschensammeln kommt, zu. „Wie geht’s dir?“ „Winter halt“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Sein Gesicht ist vor Kälte ganz rot und ich sehe, dass die Griffe der Plastiktüten seine inneren Handflächen eingeschnitten haben. Mir tut das sehr leid in diesem Moment, weil ich nicht einmal weiß, ob I. eine Wohnung hat und weil Menschen im Winter weniger Bier im Park trinken und I. deshalb weniger Flaschen neben den Mülleimern findet. Ich schaue I. nach, wie er durch den Gang, der aussieht wie ein langer Flugzeugfinger, vom Neu- in den Altbau läuft. Seine Schultern hängen. Winter halt.

Diese Begegnung war letzte Woche und seitdem denke ich viel über Lebensrealitäten nach. Ich sitze gestern Abend auf meinem Sofa und will mir ein neues IPhone kaufen, weil mein altes schlechte Fotos macht und ich die Welt durch die Linse gerne genauso ästhetisch sehen würde, wie ohne. Nebenbei läuft Tagesschau und in Gaziantep liegen hunderte Menschen unter Haus-Trümmern. Ich wundere mich, dass die ARD leblose Körper zeigt, und ein in Decken eingerolltes kleines Paket, dass Julia Nihakrika Sen als totes Baby identifiziert. Ich sehe Staub und Menschen, die noch müder und verzweifelter aussehen als die Leute, die ich ein paar Stunden vorher in der Bibliothek beobachtet habe. Mir wird schlecht von den Bildern der Trümmerberge in der Türkei und in Syrien.

Watch your privilege, sagt mein Kopf, und ich ärgere mich darüber, dass ich mich ärgere, dass IPhones so teuer sind. Seitdem Russland die Ukraine am 24.02.2022 offensiv angegriffen hat, ist Krieg in den deutschen Medien kein Ausnahmezustand mehr, sondern Standard. Das Schreckliche hat sich als neues Normal in unserem Alltag etabliert und ehrlich gesagt vergesse ich es deshalb manchmal. Ich weiß nicht, wie ich besser damit umgehen kann: Erwachsen mit meinem eigenen Stress und meinen persönlichen Problemen copen kann, ohne sie zum Schrecklichkeits-Zentrum der Welt zu machen.

Perspektive, sagt mein Kopf. Und dass mein Leben doch ziemlich schön ist, auch wenn die Sonne mal zwei Wochen nicht scheint.

Meine Freundin weint wegen Stress und ich weine wegen Schimmel und in der Türkei weinen die Leute auch. Ich weiß, dass Leiden subjektiv ist und dass es keinen Sinn macht, Leid zu vergleichen. Trotzdem gibt es mir ein schlechtes Gefühl, das große Leiden der Menschen in Krieg und Katastrophe auszublenden. Ich habe noch keinen guten Umgang mit Weltschmerz gefunden. Meine Psychologin redet immer von Handlungsfähigkeit. Ich fühle mich nicht handlungsunfähig und das Pathos der Ohnmacht, an das ich mich früher immer gerne gehalten habe, um meine Traurigkeit zu erklären, zieht auch nicht mehr so richtig. Ich weiß, dass man spenden kann, und ich weiß auch wohin. Ich weiß, dass tektonische Platten eben existieren, und Autokraten auch. Dass es Krieg und Naturkatastrophen schon immer gab und immer geben wird, genauso wie Winter und Menschen, die weniger haben als andere. Ich bin traurig, weil mein Pazifismus verhungert, und jeden Tag irgendwo auf der Welt Menschen, und weil das alles gleichzeitig passiert.

Der Spiegel hat in seiner letzten Ausgabe mit dem zunehmenden Übergewicht der westlichen Welt getitelt. Gleichzeitig leben immer mehr Kinder ihre Unsicherheiten in Untergewicht aus und es scheint mir, als entstünde auch hier eine Kluft. Es ist anstrengend dazwischen zu schwimmen, übergewichtige Eltern zu haben und eine anorektische Vergangenheit.

„Ich glaube im Leben geht es viel um Resilienz, um aushalten können und darum, Strategien zu finden, mit Scheiße produktiv umzugehen“, sagt meine beste Freundin kürzlich am Telefon. Ich nicke. Resilienz bedeutet, nicht wegzurennen, wenn die Wohnung schimmelt, sondern die Tapete selbst abzureißen. Es bedeutet nicht an schwarzem Putz zu verzweifeln, sondern nach Wegen zu suchen, ihn wieder weiß zu machen. Resilienz bedeutet Farbe zu kaufen und zu malen, oder Trümmer wegzuräumen und Geige im Bunker zu spielen. Als ich Anfang 20 war, habe ich mit Lippenstift an meinen Spiegel geschrieben, dass wir alle nur ein kleines Teilchen sind, dass durchs unendliche Universum fliegt. Ich wollte mich damit daran erinnern, mich selbst nicht zu ernst zu nehmen, meine Sorgen und Probleme, die sich oft existenziell anfühl(t)en, relativ zu sehen und zu wissen, dass ich immer Gummistiefel trage, auch wenn ich im Matsch stehe. Das wird mir klar, wenn ich die Bilder aus der Provinz Idlib sehe, aus Gaziantep, aus der Ukraine, aber auch wenn ich I. anschaue, der bei Minusgraden nach Pfandflaschen sucht. Der Gedanke an Materie im Universum hilft mir, innezuhalten, bei all dem, was immer passiert, und mich einzuordnen. Zu sehen, was ich habe, nicht was ich haben will, und zu sehen, dass das meistens genug ist.

Während ich das schreibe, sitze ich im Café. Ich habe schon drei Mal den Tisch gewechselt, immer der Sonne hinterher, die warm durchs Fenster strahlt. Ich trinke Kakao, was ich nie mache, weil ungesund, und bin sehr glücklich in diesem Moment. Wir dürfen an grauen Wintertagen zerbrechen und an eingestürzten Häusern, aber wir dürfen uns auch wieder zusammenbauen und gut sein, zu uns, und unserem Umfeld. Selbsthass, das habe ich in den letzten zwei Jahren gelernt, stoppt weder Kriege noch Winter und deshalb dürfen wir versuchen, anders mit Weltschmerz und Wut umzugehen. Als P. und ich heute Morgen zum Bus gelaufen sind haben wir „Warum bin ich so fröhlich“ gehört, von der kleinen Zeichentrickente Alfred Judokus Quack. Wir lachen und watscheln und bekämpfen unsere Wintermüdigkeit mit dem einfachen Gedanken an ein Kinderlied. Wir hören es so oft, bis wir es tatsächlich fühlen, warum sind wir so fröhlich, manchmal ist einfacher, als man denkt.