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Mach dich frei, Babe.


Ich erinnere mich noch gut an die Zeit vor den Sommerferien. Sechs Wochen – eine Ewigkeit. Retrospektiv nicht mehr als ein aufgeregter Wimpernschlag. In den Sommerferien der Mittelstufe habe ich zum ersten Mal einen Hauch Freiheit gerochen; in der Oberstufe gedacht, sie schmeckt nach Wodka-Mische, Kippen und Jungs, diese Freiheit; sie im Studium zum ersten Mal gespürt, diese Freiheit und mir geschworen, sie nie wieder loszulassen. Heute fühlt sich Freiheit anders an. Wir sehen uns selbst beim Mundschutz tragen zu und das Infektionsschutzgesetz hält uns auf 1,5 Meter Abstand. Während die Welt sich im Stillstand eingerichtet zu haben scheint, gehen die Gedanken auf große Reise.

Frei sein

Ich muss an Angie denken. Und an Bewegungsfreiheit. Und wie weh es ihr tue, ein „so hart erkämpftes Gut“ einschränken zu müssen. Ich frage mich in diesen Tagen, inwiefern externe und intrinsische Freiheit zusammenhängen. Kann ich frei sein, wenn ich fremdgesteuert in eben dieser Freiheit eingeschränkt bin? Die Grundrechtsbeschneidungen wurden medial kontrovers diskutiert. Ich reihe mich weder bei den Verfassungsbeschwerdlern ein, noch sitze ich in meinem desinfizierten Toilettenpapierbunker und warte auf einen Impfstoff. Ich möchte gerade weder Armin noch Markus sein. Und Angies konkordante Regierung nervt mich. Demokratie lebt vom Streit der Alternativen. Aber was ist alternativ in dieser Krise, wenn es so viele konträre Informationen gibt, dass nicht einmal mehr Geradlinigkeit erkennbar ist?

Ich hatte in den vergangenen Wochen eine Kreativblockade. Mein an Produktivität gekoppeltes Selbstwertgefühl macht Homeschooling und ich lerne Geduld. Vor allem mit mir selbst. Und ich frage mich jeden Tag aufs Neue, woher dieser Druck kommt, der über einer gesamten Generation zu schweben scheint: Die Raupe Nimmersatt, die To-Do-Listen frisst. Wem wollen wir etwas beweisen? Eine Me-too-Spirale der Selbstoptimierung, die krank macht. Wir fahren Kollektiv-Achterbahn und der Kopf einer Generation entscheidet sich jeden Tag neu für: ‚ich komme super klar‘ und ‚WAS ZUR HÖLLE IST EIGENTLCH LOS?‘

„Es kommen noch so viele Sommer“, sagt meine Freundin am Telefon. Wir reden über die Festivalsaison. Nichts wünsche ich mir gerade mehr, als in einem unter Wasser stehenden Zelt warmes Dosenbier zu trinken, ungeduscht seit drei Tagen, glitzernd und voller Glück. „Ich weiß“, seufze ich. So viele Menschen haben es so viel schwerer, „bla bla“, sage ich. „Ich bin sauer. Ich hab echt keinen Bock mehr“, sage ich laut. Ich bin keine Risikopatientin. Ich habe nicht meinen Job verloren. Ich habe keine Oma im Altersheim. Aber ich möchte meinen Frust trotzdem ausdrücken dürfen. Und meine Traurigkeit und meine Angst. Ja, ich habe Angst. Nicht vor einer Ansteckung und nicht vor einem abgesagten Sommerurlaub. Ich habe Angst vor den gesellschaftlichen Folgen. Im coronigen Nachrichtensumpf sind zwischen Beatmungsgeräten und Totenzahlen die internationalen politischen Entwicklungen unterrepräsentiert. Das Infektionsranking der John-Hopkins-University liest sich beinah wie der olympische Medaillenspiegel. Und auf der Suche nach einem Sündenbock hat man es heute noch leichter. Donald Trump hat die meisten Toten. Wir haben es ja gesagt. Arschloch. Dabei vergessen wir schnell, dass hinter den Zahlen Menschen stecken. Dass Kinder ihren Opa verlieren, nicht Donald Trump eine Wählerin. Jetzt, wo sich Politik und Gesellschaft auf das Virus eingestellt haben – wo Extremzustand langsam Alltag wird und eine Maske zum Leben dazugehört wie die Zahnbürste, sind plötzlich nicht mehr alle gegen das Virus, sondern wieder gegeneinander. Gegen Corona arbeitet die Pharmaindustrie im Hinterzimmer, die politische Bühne braucht ein neues Feuer. Es wird heiß gekocht. Ich frage mich, warum Europa plötzlich vom Tellerrand fällt und jedes Land in seiner eigenen Suppe stochert. Viktor macht Eintopf und dünstet Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wischt sich den Mund mit Ermächtigungsgesetzen ab und Ursula wünscht einen guten Appetit. Wladimir bleibt bis 2036 am Tisch sitzen – das ist aber auch lecker, das russische Essen – aber die Grenzen sind zu, Nationalstaat first, auch in Europa. Dass dieses trumpsche Denken über den Atlantik schwappt, Populismus und Nationalismus ans Land schwemmt ist besorgniserregend. An Sars-Covid-2 sterben vereinzelt Menschen. An Diktaturen gehen Länder zu Grunde. Und mit ihnen die Menschen. Die Demokratie liegt auf der Intensivstation, die Beatmungsgeräte fehlen. Das mag überspitzt klingen. Aber Anfänge erkennt man erst dann, wenn es keine mehr sind. Und Demokratie ist kein Biedermeier.

Einseitig. Das kommt mir in den Kopf, während ich wieder und wieder über den Text gehe. Kein Wort den Chancen und dem Feuerwerk der Solidarität, das seit Wochen in der Luft schwebt. Das spüre ich auch. Aber eben nicht nur. So wie Krisenzeiten Regierungszeiten sein mögen, ist vermeidlicher Stillstand Nährboden für persönliche Entwicklung. An dieser Stelle möchte ich ein paar Gedanken teilen, die mich in den letzten Wochen sehr beschäftigen. Die Coronakrise mag sie angestoßen haben, ist aber sicherlich nicht Ursache, wenn überhaupt Symptom. Mir fällt auf, dass Krisen Katalysatoren sind. Und dass Paradigmen wackeln. Wir stellen Selbstverständlichkeiten in Frage, weil unsere Welt plötzlich Kopf steht. Der Mensch denkt in binären Mustern: In oppositionellen Kategorien. Wir erklären uns die Welt mit Gegensätzen. Zum Mann gehört die Frau, zum Tag die Nacht. Diese Komplexitätsreduktion schließt Zwischenstufen aus und macht Dinge zu Abnormalitäten, nur weil sie aus der 0-1-Matrix fallen. Die 0-1 Matrix schafft Sicherheit, weil sie vorhersehbar ist. Die 0-1 Matrix kennt keine Krisen. Und trotzdem blinzeln wir in Zeiten wie diesen schwarz-weiß. Was ist die 0 zu Freiheit? Unfreiheit? Oder Sicherheit?

Sicherheit kann Angst besser bändigen als Freiheit. Mundschutz statt Herdenimmunität. Kontaktsperre statt Corona-Party. Und plötzlich sehen wir uns eingeschränkt. Ich habe eine Fernbeziehung in die Schweiz und vor ein paar Wochen einen systemrelevanten Job angenommen. Ich spüre die Freiheitseinschränkungen stark. Weil Freiheit auch Verantwortung bedeutet. Und die Möglichkeit einschließt, sich selbst und anderen zu schaden.

Ein freiheitlicher Gedankenexkurs

Die fehlenden Kondensstreifen im Himmel – ein Sinnbild für meine Zerrissenheit.

Ich versuche mich zu entschleunigen und mir Zeit zu nehmen, Zeit zu haben. Ich versuche zu meditieren und Yoga zu machen und verrückte Gerichte nachzukochen und den Garten schön zu machen und und. Gleichzeitig fühle ich mich unfrei, ein inneres Brodeln, eine Unruhe, die sich wellenartig ausbreitet. Was kommt danach? Diese Ungewissheit greift mein Freiheitsgefühl an. Frei sein bedeutet für mich selbstbestimmt und unabhängig meinen punktuellen Bedürfnissen nachgehen zu können. X. Unfreiheit macht befangen. Und ich frage mich in diesen Tagen, warum wir immer ausbrechen wollen. Woher kommt der Drang, grenzenlos frei zu sein? Ich habe Probleme mich zu entscheiden und ich habe noch viel mehr ein Problem damit, mich festzulegen. Der Konjunktiv tanzt mit Superlativen und meine Synapsen brechen auseinander. Hätte, könnte, würde, besser, perfekt – bis zur kognitiven Orientierungslosigkeit. Wir suchen und suchen und vergessen dabei, dass alles bereits in uns steckt. Wir suchen Freiheit in offenen Beziehungen und reden uns ein, dass wir das brauchen. Wir entfremden uns von unserer Familie, weil wir eben gerne reisen. Wir wechseln unseren Freundeskreis, weil wir uns entwickeln, wir haben viel Sex und wir nehmen Drogen. Weil wir frei sind. Und weil wir’s können. Aber wie viel Freiheit steckt in alldem? Wie zufrieden macht Schnelllebigkeit und exzessive Freiheit? „Vielleicht wollen wir uns von allem Äußeren frei machen, weil wir innerlich so gefangen sind“ sage ich am Telefon zu meiner Freundin. Sie sagt nichts, aber spricht mich immer wieder auf diesen Satz an. Ich denke viel darüber nach. Ich habe auch schon offene Beziehungen geführt und meine Familie vernachlässigt – der Freiheit wegen. Retrospektiv sehe ich eine egozentrische Unsicherheit, die fehlendes Selbstwertgefühl in externer Reizüberflutung suchte und vor Routine floh, weil Routine auch Selbstauseinandersetzung bedeutet. Und das ist anstrengend. Ich lerne gerade, dass man sich von inneren Blockaden und Unsicherheiten nicht frei machen kann, indem man das Sicherheitsnetz im Außen kappt. Freiheit ist rebellisch. Freiheit raucht. Freiheit schmeckt nach Widerstand. Dachte ich. Das ist aber nur der Prozess – der Übergang in echte Freiheit. In nachhaltige Freiheit und gesunde Freiheit. Das denke ich, während ich in den wolkenlosen Himmel schaue. Und ich bin mir immer noch nicht sicher, wie sich Sicherheit und Freiheit in meinem Leben die Waage halten.

In diesem Moment gibt Jens Spahn eine Pressekonferenz. Dem Föderalismus sei Dank ist die Verwirrung über Maskenpflicht und Schulöffnungen bundesweit perfekt. Angie bedankt sich, die neue Corona-Kerngröße ist die Reproduktionszahl. Passt sich das Freiheitsverständnis an die äußeren Umstände an? Lernen wir beim räumlichen Abstand halten auch geistig, uns neu zu bewegen? Werden Paradigmen in Krisen unterbewusst neu verhandelt?

Der Text ist nicht abgeschlossen, weil das Thema Freiheit es nicht ist und immer wieder neu verhandelt werden muss. Im Grundgesetz steht, dass jeder Mensch das Recht hat, sich frei zu entfalten. Gesamtgesellschaftliche Freiheiten sind, wenn Infektions- oder Katastrophenschutzgesetz sie nicht gerade aushebeln, von der Verfassung geschützt. Eine Demokratie lebt von der Freiheit ihrer Bürger. Dieser Rahmen ist gut und wichtig, aber nicht genug, um persönliche Freiheit zu schaffen. Ich spüre, dass es immer schwerer ist, pure Freiheit zu spüren. Pflichten, Abhängigkeiten, Druck und Selbstoptimierung, psychische Erkrankungen und toxische Beziehungen stellen sich in den Weg. Freiheit ist ein Gefühl und oft nur eine Momentaufnahme. Ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass es erstrebenswert ist, sich von Allem frei zu machen und dass man sich trotz Struktur und Sicherheit frei fühlen kann. Mit der Freiheit mag es wie mit dem Glück sein – eine stetige, sich verändernde Suche.

In diesem Moment frage ich mich, ob Corona unser Freiheitsverständnis nachhaltig verändern wird. Und wann ich das nächste Mal mit warmem Dosenbier in einem überfluteten Zelt sitzen werde, ungeduscht, glitzernd, und voller Glück.

Foto: Unsplash