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Nihilistischer Optimismus

Ist wirklich alles irgendwie egal?


Über die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

„Und, wie findest du das Buch?“ Ich sitze im ICE von Berlin nach Stuttgart, gegenüber von mir ein Kerl, Mitte 30, der erst mein Buch und dann mich mustert. „Ich habe selbst zehn Jahre in einer polygamen Beziehung gelebt. Ich finde das Buch nicht so gut, das ist sehr realitätsfern“, sagt der Kerl in schwarz, der seinen Laptop zuklappt und sich für eine literarische Debatte bereitzumachen scheint. „Ich glaube das will der Autor damit gar nicht sagen“, antworte ich. A. legt seinen Kopf schief. „Tut mir leid, ich bin überhaupt nicht in Unterhaltungslaune“, sage ich entschuldigend und er nickt verständnisvoll. Als ich in Karlsruhe aussteige sagt A., dass mich das Buch wohl prägen wird. Er hatte Recht.

Inspiration ist wie ein Wanderpokal, deshalb möchte ich meine Gedanken teilen, die das Lesen in mir ausgelöst haben. Mir liegt es fern, eine Buchkritik zu schreiben – nimmt sie in meinen Augen die Botschaft vorweg und sperrt die Fantasie in einen Käfig subjektiver Imagination.

Der Autor Milan Kundera ist Tscheche. Während des Prager Frühlings ist er nach Frankreich ins Exil geflohen und hat 1986 seinen Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ geschrieben. Das Buch ist eine Reise durch die Beziehungslandschaft verschiedener Menschen, die sich sehr unterschiedlich, aber im Kern doch ähnlich erzählen. Obwohl die Protagonist*innen in glücklichen Beziehungen zu leben scheinen, brechen sie regelmäßig aus, und betäuben sich mit kurzfristigen Ekstasen. Liebe ist in diesem Roman kein nachhaltiges Glück, sondern eine Droge: intensiv, aufwühlend und aus falschen Motiven herbeigeführt. Polygamie wird praktiziert und irgendwer in dem wirren Beziehungsgeflecht ist dabei immer sehr unglücklich. Alles dreht sich um die Auslebung der Liebe. Und trotzdem glaube ich nicht, dass Polygamie das tatsächliche Thema des Buches ist. Es ist mehr Symptom als Objekt, es steht stellvertretend für die Rastlosigkeit, die in uns allen wohnt und in Unzufriedenheit mündet, wenn wir keinen Weg finden, sie anzuerkennen – und damit unseren innersten Kern anzunehmen.

Schweben

Leichtigkeit und Schwere stehen sich in dieser Erzählung nicht konträr gegenüber – sie sind Partner, eine Symbiose, die ganz natürlich eingegangen wird, wenn die Intensität der Welt gefühlt werden kann. Wenn das Eine nicht ohne das Andere lebt, dann ist diese Annahme so schmerzhaft wie beruhigend. Es ist wohl töricht zu glauben, dass der Schwebende niemals fallen kann. Trotzdem würde ich Milan Kundera gerne fragen, wie er Leichtigkeit definiert. Seine Charaktere fühlen sich immer dann leicht, wenn sie sich betäuben, durch das Gefühl des Rausches im Sex mit einer Affäre. Diese Leichtigkeit kann nicht echt sein, wenn sie eine Parallelrealität als Voraussetzung hat. Diese Leichtigkeit macht auf Dauer schwer und deshalb macht sie abhängig. Sie schiebt das Gefühl punktuellen Glückes zwar nicht in die Sphäre der Unerreichbarkeit, Momente von Schwere und Unmut werden aber häufiger. Als würde sich die Skala des emotionalen Haushaltes nach unten verschieben. Falsche Leichtigkeit produziert echte Schwere. Und schiebt das Rad der Rastlosigkeit an.

Diese Rastlosigkeit prägt das Leben und stützt die Annahme der diesem innewohnenden Schwere. Eine Schwere, die wir selbst produzieren, weil wir der Leichtigkeit nicht trauen. Wir löschen Feuer mit Benzin, wenn wir uns in Betäubung flüchten. Die in Betäubung gezüchtete Leichtigkeit ist ein Fallbeil.

Also spricht Milan Kundera wohl vom betäubten Leben, wenn er die unerträgliche Leichtigkeit des Seins meint. Von der Unmöglichkeit des Genießens eines Moments, von der Dankbarkeit den kleinen Dingen gegenüber, von Selbstliebe. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins ist die Flucht vor sich selbst. Mit dieser Annahme fordert Kundera seine Charaktere und damit uns alle, heraus, sich selbst zum Zentrum des Lebens zu machen – keinen Partner, keine Partnerin – und diese Konfrontation auch auszuhalten. Die Unerträglichkeit formen wir uns selbst, sie ist nicht einfach da, indem wir wie Bienen von Blume zu Blume fliegen, um den süßesten aller Nektar zu finden, unseren Geschmackssinn dabei reizüberflutend überfordern. Es wäre so leicht, auf einer Blume in der Sonne zu liegen, satt und glücklich.

Liebe durch Leistung

Wenn ich eine Biene wäre, dann wären meine Flügel wohl verklebt, vom ganzen hin- und her Gefliege. Ich kenne die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Ich kenne sie noch nicht so lange, über die Zeit war sie mir so dicht vors Gesicht gewachsen, dass ich nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gibt. Als ich sie dann entdeckt habe, war ich sehr beschäftigt damit, neidisch auf die Menschen zu sein, die sie nicht haben. Die aushalten können, einfach nur zu Sein, ohne von dem Gefühl begleitet zu werden, dass sich Leistung in Liebe übersetzt. Dass Glück verdient werden muss und dass das schöne Leben vergänglich ist. Das Alles hat mit dem Streben nach Mehr zu tun, nach unerreichbarer Perfektion, nach Vollkommenheit im Außen, die Schattenwirtschaft ist, für innere Zufriedenheit.

Ich frage mich, ob Milan Kundera dieses Gefühl kannte. Von etwas getrieben zu sein, ohne den wirklichen Grund zu kennen. Betäubung und Bewusstsein sind Gegenspieler. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins kann nur mit Letzterem besiegt werden.

Und wie?

Ich muss an dieser Stelle an die amerikanische Dichterin Sylvia Plath denken. „It’s a hell of a responsibility to be yourself. It’s much easier to be somebody else. Or nobody at all.” Bewusstsein und das Selbst sind ineinander verwoben. Wenn das eine erfolglos nach dem anderen sucht, dann macht uns das sehr unzufrieden. Und rastlos. Kunderas Buch ist über 30 Jahre alt. Die kommerzielle Phase des Internets lag damals noch in ferner Zukunft und anstelle von sozialen Medien wurde die eigene Sozialität konsumiert. Heutzutage erscheint es mir leicht, sich in die vermeidliche Leichtigkeit anonymer Identifikationsobjekte zu stürzen, um die eigene Schwere für einen Moment zu vergessen. Das mag eine gesündere Betäubung als Untreue sein, ist aber genauso gefährlich. Wie sollen wir unser Selbst und unser Bewusstsein dafür zusammenbringen, wenn wir so wahnsinnig beschäftigt sind, das Leben anderer Menschen zu verfolgen und uns nach ihrer Leichtigkeit zu sehnen. Leichtigkeit ist ein Trugschluss, weil sie für jeden Menschen etwas anderes bedeutet. Sie ist die Fähigkeit, dem eigenen Leben eine Erfüllung zu geben, einen Sinn, der ganz intrinsisch aus einem herauskommt. Leichtigkeit ist für etwas zu verbrennen und sich nicht vom eigenen unausgelebten Feuer verbrennen zu lassen. Leichtigkeit ist Zeit zu haben und den Mut, die Zeit nicht im Vorhinein zu verplanen, sondern zu vertrauen, dass man selbst die Leere der Freiheit füllen kann. Leichtigkeit ist, seine persönliche Wahrheit zu leben und sich selbst aushalten zu können, Leichtigkeit ist, auch die Schwere an- und sich selbst nicht zu ernst zu nehmen.

Selbsterschaffene (Un)Bedeutsamkeit

Mein Bruder spricht immer von optimistischem Nihilismus, wenn wir uns über Lebensphilosophien streiten. Optimistisch, weil die Tristesse des Nihilismus zu dunkel ist. Nietzsche mag am Geheimnis der Welt zu Grunde gegangen, im Meer des Schwermutes ertrunken sein. Dem optimistischen Nihilismus liegt die Gewissheit zu Grunde, dass wir alle nur eine ganz kleine Materie im Universum sind, unbedeutend, wenn wir das zulassen, aber zu allem in der Lage, wenn wir das wirklich möchten. Wir sind nichts und gleichzeitig alles, schreit der Pathos. Was sagst du dazu, Milan? Was ist deine Lösung zur unerträglichen Leichtigkeit des Seins?

Ich würde A. aus dem Zug gerne fragen, was er darüber denkt. Wenn ich in Zukunft von Stuttgart nach Berlin fahre, dann werde ich nach ihm Ausschau halten. Er wird wohl eigene Interpretationen haben. Dass ist das Schöne an Kunst. Sie gibt uns den Raum, frei zu denken und führt uns damit ein Stückchen weiter zu uns selbst: zu eigenständig lebenden, denkenden und handelnden Menschen. Vielleicht macht Kunst die Leichtigkeit des Seins auf diese Weise ein bisschen erträglicher.

Foto: Unsplash