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Papa, du fehlst

Papa, du fehlst.


Mein Papa hat sich vor sechs Wochen das Leben genommen und seitdem ist alles anders. Ich weiß, dass Trauer in Wellen kommt. Aber ich hätte nicht gedacht, dass diese Wellen Tsunamis sind. Ich vermiss‘ dich Papa, so sehr, jeden Tag, und ich wünschte, ich könnte dir gerade von dem Schmerz erzählen, der sich so bleiern durch meinen Körper schiebt. Ich erzähl dir trotzdem davon, auch wenn ich weiß, dass du mir nicht antwortest, aber vielleicht hörst du mich ja doch, irgendwo hinter der Regenbogenbrücke.

Ein Sturm ohne Wolken

Wir sind auf dem Geburtstag der Tante meines Freundes. Alle Eltern, die sich hier Schnitzel und Apfelkuchen in den Mund schieben sind noch zusammen und die Häuser von diesen Eltern sind groß und weiß und scheinbar sorgenlos. Onkel A macht Fotos und Onkel B geht mit Oma spazieren. Ich sitze am Kindertisch, an dem mittlerweile alle weit über 18 sind, und lache über das muntere Treiben. Ich erzähle von meinem neuen Job und den hohen Mieten in München und dass es mir ganz gut geht, ja. Ich merke erst nur dumpf und dann immer klarer, wie sich ein Sturm in mir aufbaut. Ich schlucke ihn runter, spüle mit Kaffee und Tee und Wasser und Apfelsaft nach, aber er ist hartnäckig, der Sturm in mir, der seit Wochen kommt und geht, ohne Vorhersage oder Extremwetterwarnung. Als mein Freund und sein Papa mit dem Auto losfahren, das ich mitgebracht habe, das aber nicht meins ist, um die Bremsen zu testen, weil sie sich komisch angehört haben vorhin, bricht der Sturm aus mir heraus. Aus meinen Augen und aus meiner Nase, mein ganzes Herz stülpt sich nach außen. Ich will nicht, dass jemand mit Papas Autos Brems-Tests macht und ich will nicht, dass jemand Papas Kaufvertrag durchschaut und ich will nicht, dass jemand Papas Öl prüft oder Papas Reifendruck, oder den Steinschlag wegmacht, ganz rechts in der Frontscheibe von Papas Auto. Niemand außer Papa! „Papa macht das schon“, will ich sagen, als der Vater von meinem Freund mich nach dem TÜV fragt, aber mein Papa macht gar nichts mehr, denn mein Papa ist tot.

Das wird mir in diesem Moment in der Idylle einer Familie, die nicht meine ist, wieder sehr bewusst. Ich vergesse es immer wieder, mein Unterbewusstsein schiebt das beiseite. Dabei habe ich seinen Baum im Friedwald ausgesucht, seine Beerdigung organisiert, sein leeres Haus gesehen, tausend Beileidsbekundungen entgegengenommen. Aber mein Unterbewusstsein wehrt sich gegen die schmerzhafte Endgültigkeit. Während ich all die Papas in diesem Raum beobachte, denke ich, dass mein Papa nicht mehr 60 werden wird, nicht mal mehr 56. Mein Papa wird keinen Apfelkuchen mehr essen, sich die Sahne dabei von der Lippe lecken und genüsslich hmmm sagen. Mein Papa wird sich nicht mehr über die neue Partei von Sarah Wagenknecht beschweren und auch nicht im Tisch-Fußball gegen mich verlieren. Er wird mich nicht mehr in den Arm nehmen, wenn ich ihm den „mir ist gerade alles zu viel“ Blick zuwerfe und er wird mich nicht mehr ganz fest drücken, so fest, wie nur ein Papa das kann. Und wenn ich Geburtstag habe, dann wird Papa nicht da sein. Nicht wenn ich 28 werde, und nicht, wenn ich 30 werde und auch nicht danach.

Der Teil in mir, der mich schwer macht, der sich am liebsten den ganzen Tag ins Bett legen und niemandem auf Whatsapp antworten möchte, der nicht zur Arbeit gehen und den ganzen Tag Eis, oder gar nichts essen will, dieser Teil in mir möchte alle Feiertage für immer ausfallen lassen. Kein Weihnachten ohne Papa, kein Ostern, keinen einzigen Geburtstag und keinen Advent, und auch keinen Sommer und keinen Frühling und keinen Winter und keinen Herbst, weil ich all diese Anlässe mit dir verbinde, Papa. Ich sehe dich im Schnee, wie du den Schlitten ziehst, in dem ich sitze und lachst, als ich im Schneeanzug hinunter purzele. Ich sehe dich am Strand liegen und ins Wasser springen, obwohl die Ostsee eisig kalt ist. Ich sehe dich durch den Wald spazieren und Bucheckern mit Eicheln verwechseln, und ich sehe dich im Frühling nicht das Haus verlassen, weil du so sehr Heuschnupfen hast, dass deine Augen ganz rot sind im April. Ich denke an dich, wenn ich dein Lieblingslied höre, zu dem du immer diese lustigen Handbewegungen gemacht hast und wenn ich Ketchup esse, dann denke ich daran, wie sehr du dich über die Ketchupflasche aufgeregt hast, die dir beim Schütteln explodiert ist. Es ist Ende Oktober, Papa, und wenn ich durch das Meer an bunten Blättern laufe, die gerade überall im Wald Blätter-Party feiern, dann will ich dir davon erzählen, weil das Schöne am Schönsten ist, wenn man es mit den Menschen teilt, die man liebt. Ich habe kürzlich versucht dich anzurufen, Papa, nur um zu sehen, ob deine Mailbox eine Stimme hat. Es hat in meinem Schrank geklingelt und die Mailbox war ein Computer. Zum Glück kann ich mich gut daran erinnern, wie du gesprochen hast. Am liebsten mochte ich es, wenn du Kermit den Frosch aus der Sesamstraße nachgemacht hast oder den französischen Monsieur, der nie einen Namen hatte. Zum Glück haben wir oft telefoniert und zum Glück habe ich dir immer gesagt, dass ich dich liebe. Ich hoffe du spürst das noch, denn ich kann den Gedanken kaum ertragen, dass sich meine unendliche Liebe zu dir im luftleeren Raum auflöst. Ich wünschte, du könntest mir jetzt sagen, dass das nicht so ist, und dass sie bei dir ankommt, meine Liebe.

Ich glaube ich werde niemals verstehen, warum du gar kein Licht mehr gesehen hast. Ich kenne den auch, den dunklen Tunnel, aber irgendwer drückt mir immer eine Taschenlampe in die Hand. Ich hätte am liebsten mein ganzes Geld in Taschenlampen investiert, dir alle Taschenlampen dieser Welt gekauft, um dich vor der unerträglichen Dunkelheit zu beschützen. Ich denke jeden Tag an dich, bei fast allem, was ich mache. Wenn meine Anxiety kickt, dann denke ich daran, was du mir sagen würdest und wenn ich nicht an mich glaube, dann weiß ich, dass du es um so mehr tust. Du hast das dickste Loch der Welt in mein Leben gerissen und ich beabsichtige nicht, es zuzuschütten. Ich werde immer mal wieder eine Kastanie oder eine Sonnenblume reinlegen, und manchmal setze ich mich vielleicht auch selbst hinein. Ich konnte noch nie surfen, aber bei dem Wellengang in meinem Leben wird es vielleicht endlich Zeit, das zu lernen. Ich hoffe du guckst mir dann zu, Papa, und vielleicht erklärst du mir nochmal was Luv und was Lee ist.

Ich bin in Gedanken immer bei dir, immer, immer, immer, immer.

Du fehlst. Ganz ganz ganz doll.

Header-Image: Unsplash