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(Post)-Essstörung

(Post)-Essstörung: Diese Hose ist für Kinder


Nach langer Zeit zwischen Systemkritik und politischen Kommentaren möchte ich hier mal wieder eine ganz persönliche Geschichte aus meinem Leben teilen. Es geht um meine frühere Magersucht und wie sie heute immer noch manchmal Einfluss auf mein Leben hat. Es geht um Schönheitsideale, Körperwahrnehmung und Hormone, Perfektionismus, Leistungsdruck, Selbstwert, und wie schwer es ist, seinen ganz eigenen Platz zu finden: Als Frau, nicht als Mädchen.

„Du hast überall Druckstellen“, sagt mein Freund, der meine Jeans in der Hand hält und meine nackten Beine anschaut. „Ich habe Bauchschmerzen“, sage ich, und spüre, dass ich zum ersten Mal heute tief durchatmen kann. Mein Bauch füllt sich mit Luft und fühlt sich dabei groß an. „Die Jeans muss endlich weg“, sagt mein Freund, während er das kleine Stück Stoff von oben bis unten begutachtet. Ich ziehe eine Schnute, bin aber zu erschöpft zum Argumentieren. Ich nicke und streichele meinen Bauch, den ich seit mehreren Monaten immer wieder in diese viel zu kleine Hose presse – warum, weiß ich auch nicht so genau.

Die Hose in Größe 25 ist das letzte Relikt meines untergewichtigen Ichs. Ich habe sie schon seit Jahren und war immer sehr stolz darauf, die kleinste Hosengröße tragen zu können, die es gibt. Ich war mit 13 wegen Magersucht viele Monate in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie und habe seitdem gelernt, mit der Krankheit zu leben. Ich habe viele Jahre Therapie gemacht, ein Buch über die Krankheit geschrieben, und irgendwie gedacht, ich hätte sie abgeschüttelt. Magersucht ist sneaky und erinnert mich an diese eine Freundin, von der man weiß, dass der Kontakt toxisch ist, den man aber trotzdem hält. Aus Gewohnheit, und vielleicht aus Angst, was passiert, wenn man ihr ein für alle Mal den Rücken kehrt.

Magersucht ha eine höhere Mortalität als eine vollkommene Genesungschance. Ich habe mir in den vergangenen Jahren immer eingebildet, genesen zu sein, auch wenn ein kleiner Teil in mir wusste, dass ich mich täusche. Ich komme vom Kalorienzählen bis heute nicht komplett weg und ich kriege immernoch Panik, wenn ich merke, dass sich mein Körper verändert. Mir fällt es schwer, anzunehmen, Normalgewicht zu haben und es verunsichert mich tief, wenn ich Frauen kennenlerne, die dünner sind als ich. Ich habe immernoch eine verzehrte Wahrnehmung und Gewicht und Körper spielen für mich auch noch heute eine außergewöhnlich wichtige Rolle. Ich weiß, dass das Thema tabuisiert ist. Nicht, weil es verurteilt wird, sondern weil die Scham von Betroffenen riesig ist.

Ich habe meine Essstörung als Emotionsregulationsstörung kennengelernt und meine Obsession mit meinem Körper als Ventil für meinen Perfektionismus. Ich glaube nicht, dass ich die Einzige bin, die diese Gedanken, Gefühle und regulierenden Mechanismen kennt. Ich habe in den letzten 13 Jahren sehr unter diesen Dynamiken gelitten. Langsam finde ich einen gesunden Weg, meinen Körper anzunehmen, ohne meine Umwelt dabei mit Selbstliebe-Floskeln zu vergiften. Ein paar Erkenntnisse möchte ich gerne teilen.

Das andere Schönheitsideal

In der Blase, in der ich mich bewege, ist es Trend, mit konstruierten Idealen zu brechen. Das ist eine der schönsten und wichtigsten Bewegungen, die ich kenne, und trotzdem kann ich mich ihr nicht komplett anschließen. In meinem Kopf gibt es immer noch eine Schublade, in der die perfekte Frau steckt. Mein Bild von ihr hat sich mit den Jahren verändert. Es ist aufgeweicht und mittlerweile keine Schublade mehr. Wenn ich, fernab von Charakterzügen, an Schönheitsideale denke, dann meine ich nicht Heidi Klum oder Caro Daur, die Vorstellung des blonden Models als Ideal ist dank Diversitätsbestrebungen nahezu obsolet. Wenn ich an Schönheitsideale denke, dann denke ich eher an Sportlichkeit und Natürlichkeit, die ich mit schlanken, straffen Körpern assoziiere. Ich hatte in den vergangenen Jahren das Gefühl, dass ‚toxic positivity‘ und die Debatte um ‚Bodyshaming‘ mein Schönheitsideal zerstört haben: Zu wenig systemkritisch, zu sehr an die Bedürfnisse der Männer angepasst, zu wenig tolerant anderen Körpern gegenüber. Dass plötzlich alle Körper als schön angepriesen wurden, hat mich tief verunsichert und war kontraproduktiv für meinen körperlichen Selbstfindungsprozess. Ich hatte das Gefühl, dass man nicht mehr schlank und sportlich sein und das offen schön finden darf, weil es als Kontradiktion zum radikalen Feminismus angesehen wurde. Wenn dein Körper ins System passt, dann verdingst du dich. Ein schwarz-weißer Kampf mit völlig fehl geleiteter Diskurshoheit: nämlich, dass es sich gegenseitig ausschließt, eine schöne, schlanke und selbstbestimmte Frau zu sein, die das System scheiße findet und kein Opfer des Patriarchats ist. Ich habe diese fehlgeleitete Annahme, die sich aus der Instrumentalisierung und falschen Kontextualisierung und aus jahrelanger Unterdrückung der Frauen speist, mit Anfang 20 nicht wirklich verstanden und mich deshalb vor dieser Entscheidung weggeduckt: Schlanker Körper oder revolutionärer Kopf?! Ich finde dieses vermeintliche Dilemma perfide und konträer zu allen Grundgedanken des Feminismus. Heute habe ich verstanden, dass leider immer noch viele Frauen Frauen hassen und das Frauenkörper bei diesem oft unterschwelligen Hass eine große Rolle spielen. Das finde ich dramatisch, und kann es gleichzeitig so gut nachvollziehen. Ich glaube nicht, dass uneingeschränkte Body positivity der goldene Weg zur Überwindung ist. Ich glaube es ist Selbstakzeptanz und Fokus. Ich weiß, was ich schön finde und wie ich aussehen möchte, und was gesund ist, und was nicht. Und ich weiß auch, dass ich eben nicht alle Körper schön finde und dass das auch okay ist. Schön und liebenswert sind zwei komplett verschiedene Dinge.

So habe ich mit Anfang 20 noch nicht gedacht. Ich war bei allem irgendwie dazwischen: Not a girl, not yet a woman. Der Zustand zwischen Mädchen und Frau ist neblig, meistens überschattet von viel Alkohol und vielen ersten Malen, Ungewissheit und der Frage, wer man eigentlich ist. Retrospektiv weiß ich, dass ich Angst hatte, mein Mädchen zu verabschieden, und eine Frau zu werden. Ich hatte Angst, mich der Frage zu stellen, was für eine Frau ich sein will: Stark, oder schön? Hosengröße 25 stammt aus dieser Zeit, und Tops aus der Kinderabteilung und Komplimente für meinen Mini-Körper. In einer Zeit, in der ich nicht wusste, wer ich sein möchte, hat es mir Sicherheit gegeben, zu wissen, dass ich dünn bin. Und dass ich dünn bleiben kann, wenn ich meinen Körper in seinem Kind-Zustand halte. Ich habe meine immer kalten Hände und Füße hingenommen, meine chronische Erschöpfung, meinen Hunger, und vor allem die Einsamkeit, die mit Geheimnissen einhergeht, die so groß sind, dass sie die gesamte Existenz betreffen. Ich hatte bis vor wenigen Monaten noch nie meine Periode. Ich bin 26 und dachte bis vor Kurzem, dass ich mich unfruchtbar gemacht hätte, wegen meines jahrelangen Untergewichts und meiner Mangelernährung. Ich habe nie darüber gesprochen, weil ich sonst meinen kranken Teil hätte zeigen müssen. Ich habe mich zu sehr geschämt. Heute weiß ich, dass sich noch viel mehr Frauen schämen und nicht darüber reden. Und dass das weibliche Hormon Östrogen Körperfett braucht. Ich weiß, dass nur gesunde Frauen gesunde Kinder gebären können und dass uns der Körper vor Dingen schützt, für die wir zu schwach sind. Ich bin heute nicht mehr zu schwach eine Frau zu sein. Und trotzdem fällt es mir manchmal schwer, das anzunehmen.

Mit das, meine ich, eine Frau zu sein, die Hunger hat, und so lange isst, bis sie satt ist.

Ich finde es ätzend, wenn ich an all die Fotos von all den Models denke, die sich mit Fast-Food ablichten lassen, um zu zeigen, wie perfekt sie sind: Dass sie essen können, was sie wollen, ohne zuzunehmen. Essen macht Spaß, solange du dünn. So hat sich das für mich immer angefühlt. Zunehmen war für mich eine Niederlage gegen mich selbst. Ein Kontrollverlust. Die anorektische Dynamik, die sich in sämtliche Ecken des Gehirns setzt und bleibt, verknüpft Selbstwert mit Kontrolle und Kontrolle mit Nahrungszufuhr. Wenn ich darüber nachdenke, warum genau ich es schlimm finde, dass ich genug wiege, dann weiß ich keine Antwort. Die anorektische Dynamik, die ich mir als Kind immer als Würgeschlange vorgestellt habe, schweigt. Ich glaube es ist zum großen Teil Gewohnheit. Ich bin es gewöhnt, klein und schmal zu sein und mich deshalb geliebt zu fühlen. Eine ver-rückte Kausalkette, die sich jahrelang selbst bestätigt hat. Ich war lange nicht mutig genug, auszubrechen, und neugierig zu schauen, was dahinter wartet. Hinter der 50 Kilo Grenze zum Beispiel oder hinter Hosengröße 34.

Essen ist überlebensnotwenig und kann von unserer Psyche deshalb sehr leicht als Ventil für Dispositionen missbraucht werden. Ich habe lange nicht verstanden, dass es andere Dinge in meinem Leben waren, die mich überfordert haben, und dass die Anorexie ein kranker Weg war, mit ihnen umzugehen. Leistungsdruck und Perfektionismus können gute Antreiber sein, um Ziele zu erreichen. Sie können aber genauso sehr hemmen und krank machen. Es wundert mich überhaupt nicht, dass gerade während der Pandemie die Zahlen der psychischen Erkrankungen, vor allem der Essstörungen, stark gestiegen sind. Essstörungen hängen am Selbstwert und bieten Sicherheit, weil sie die persönliche Freiheit einschränken und einen Weg vorgeben. Ich glaube, dass Selbsttäuschung irgendwann immer negativ auf einen zurückfällt und ich glaube auch, dass man sich das ersparen kann.

Das Pathos weint – aber warum nicht mutig sein, und in die andere Richtung gehen? Die (Ess)Störung wird möglicherweise so irritiert sein, dass sie nicht einmal folgt.

„Die kannst du noch verkaufen“, sagt mein Freund. „Ich will die lieber wegschmeißen“, antworte ich. „Das ist doch gar nicht dein Stil“, sagt er, und schaut mich an. „Oder kannst du das nicht ertragen, wenn ein anderes Mädchen in deine Hose passt?“ Ich nicke und dann denke ich, dass nicht alle dünnen Mädchen eine Essstörung haben, und nicht alle Mädchen mit Essstörung dünn sind. Genauso, wie sich Schlankheit und Stärke nicht ausschließen, oder vermeintliche Schönheitsideale und Feminismus. Ich denke, dass ich nicht so hart zu mir selbst sein muss und dass ich aufhören darf, mich zu vergleichen. Es gibt so viele Menschen, wenn man sich fertig machen möchte, dann schafft man das auf jeden Fall. Das ist keine große Leistung. „Ich glaub ich verkaufe sie“, sage ich, während ich meine neue Jeans in Größe 36 anziehe. Ich kann in der Hose sogar in den Bauch atmen. Mein Kleiderschrank ist jetzt frei, von anorektischen Relikten und kleinen Mädchenklamotten, und es fühlt sich gar nicht so schlimm an wie erwartet.

Foto: Unsplash