Zum Inhalt springen
Startseite » Texte » Sand aus Sardinien

Sand aus Sardinien

Über Träume und Möglichkeiten


Möglichkeiten können nur zu Chancen werden, wenn man mutig genug ist, Entscheidungen zu treffen.

Während ich überlege, wie ich meine Gedanken am Besten in ein Textpaket schnüren kann, höre ich aus der Ferne das Mittelmeer. Ich rieche mehr Sonnencreme als Salz und spüre Sandkörner zwischen meinen Zehen. Ich lehne an der Seitentür eines Autos, meines Autos und frage mich, wie lange es dauert, bis sich die mit grünem Lack gemalten Planeten mit meinem Schweiß vermischen und zu einem Körperplanetarium werden. Es ist heiß auf Sardinien. Die Sonne weckt mich morgens früh –ich verstehe jetzt, warum wachküssen kein Relikt der Romantik ist– und erinnert mich jeden Tag neu daran, wie wenig ich brauche. Auch uneigentlich. Ich denke viel über die Sonne nach und ich finde es verrückt, dass sie niemals schläft. Dass sie immer irgendwo aufgeht und dass die ganze Welt sich an ihr orientiert. Wir sind alle Sonnenkinder.

Ich sitze an der Nordküste Sardiniens im Schatten des Pinienwaldes. Während ich mich umschaue und mir die Stille der Umgebung fast gruselig vorkommt, fühle ich mich zur genau richtigen Zeit am genau richtigen Ort. Das Gefühl erfüllt mich so sehr, dass es fast betäubend ist und ich frage mich, warum wir das im Alltag so wenig spüren. Ich zumindest. Wie oft muss man ausbrechen, um langfristig bei sich selbst anzukommen?

„Warum macht man Urlaub“, frage ich meinen Freund vor zwei Tagen. Wir sitzen in der Toskana, irgendwo zwischen Livorno und Rom, auf dem Bordstein am Rand einer Autobahntankstelle und essen kalte Bohnen vom Vortag. Mein Auto, mein geliebter Campervan, den ich vor zwei Monaten als ich noch dachte, er würde niemals wieder fahren können, Hubi getauft habe – Hubi schnauft schwer, während unsere Gabeln im Topf klimpern. Ich bin von Frankfurt nach München gefahren, habe in Innsbruck meinen Freund abgeholt, habe gebetet, dass Hubi es über den Brenner schafft und bin vor Erleichterung kreischend wie ein Kind in den Gardasee gehüpft, als nach knapp tausend Kilometern immer noch keine Signalleuchte im Armaturenbrett rot geleuchtet hat. Das war vor einer Woche. „Ich glaube Menschen machen Urlaub, weil sie einfach rausmüssen.“ „Das beantwortet meine Frage nicht“, sage ich und prüfe, ob Rauch aus der Motorhaube kommt. Hoffentlich nicht das Getriebe, denke ich. „Willst du auch einen Espresso?“ Ich nicke.

Ich musste 24 Jahre alt werden, um zu verstehen, dass Träume keine irrationalen Konstrukte einer verklärten Utopie sind. Träume sind Wünsche der Seele. Träume sind Nahrung für den Geist, Träume füllen das Herz und machen die Welt zu einem bunten Ort. Träume sind nicht da, um von Ausreden und Alltag, Pflichten und Zwängen, Druck und Angst erstickt zu werden.

„Ich glaube Menschen machen Urlaub, um sich frei zu fühlen. Für einen Moment“, sagt mein Freund und drückt mir einen Espresso in die Hand. „Vom Alltag, vom Druck. Ist doch eigentlich ziemlich offensichtlich, oder?“ Ich schüttele den Kopf. Warum spüren wir so viel Druck? Wecker küssen wahnsinnig schlecht. Und müde durchs Leben gehen macht auf Dauer krank.

Mit den Träumen ist das so eine Sache. Kinder träumen viel, weil die Welt so weit weg ist, dass sie klein erscheint. Weil im Horizont des Kinderzimmers alles möglich ist. Wir kriegen gesagt, dass wir alles machen können, „wenn wir groß sind“. Irgendwann ersetzt das Leben die Eltern und wir müssen uns neuen Regeln beugen. Manchmal erscheint mir die Welt wie ein Ort der verlorenen Träume. An viele Orten ist träumen strukturell bedingt nur im Kopf möglich. Das ist schrecklich, aber das ist leider so. Träume sterben, weil der Überlebenskampf siegt. In der westlichen Welt ist das anders. Mir ist schon öfter aufgefallen, dass Möglichkeiten Träume ablösen. Das hört sich abstrakt an, aber meine Theorie ist sehr einfach und in meinem Mikrokosmos definitiv empirisch nachgewiesen.

Dieser Text will eine Hommage an das Träumen sein. An dessen magische Stärke und an die Glückseligkeit, die den Mut belohnt, sich seiner Träume anzunehmen.

Ich bin Teil der Generation Y. Mein Bruder gehört wohl schon zur Generation Z. Ich bin in den späten 90ern geboren, habe HubaBuba gekaut, die No Angels gehört, Tattoo-Ketten getragen und Vanille Deo benutzt. Ich habe viel geträumt als Kind – manchmal, um die Realität zu vergessen, manchmal aus Langeweile, meistens konnte ich nicht einmal etwas dagegen tun, die Träume sind wie Blätter aus meinem Gedankenbaum gepurzelt und haben es sich in meinem Kopf bequem gemacht. Irgendwann wird die Frage „was willst du mal machen“ zu „was machst du“, HubaBuba kaut niemand mehr und plötzlich ist später jetzt. Man muss sich in der Welt einrichten und klarkommen. Je älter man wird, umso mehr Möglichkeiten bieten sich, Dinge zu tun. Ich kenne das Gefühl gut, mich im Möglichkeitenjungle zu verlieren. Zu viele Menschen, die man treffen möchte, zu viele Bücher, die man lesen und zu viele Dinge, die man lernen will. Dieser Möglichkeitenreichtum ist ein großes Privileg. Er kann aber auch sehr unzufrieden machen. Möglichkeiten können Träume zerstören, bevor Träume die Chance hatten sich in Möglichkeiten zu verwandeln. Das klingt abstarkt. Aber eigentlich ist es ganz leicht.

Ich glaube Menschen fahren in den Urlaub, weil man eben in den Urlaub fährt. So wie man am Wochenende nicht arbeitet, oder mit Ende 20 anfängt über die Familienplanung nachzudenken. Man fährt in den Urlaub, weil das Leben anstrengend ist und weil man sich erholen möchte, an schönen Orten, die man bestenfalls kulturell anziehend findet und in zwei Wochen so hochprozentig konsumiert, dass es möglicherweise die Winterdepression überdauert.“ Wir checken den Ölstand. Der rechte Seitenspiegel ist mit Panzertape befestigt. Wir waren in Verona Aperol trinken und in Bologna Cappuccino, wir haben in der Toskana Pizza gegessen und sind jeden Tag an einem anderen Ort im Meer geschwommen. Toll klingt das. Roadtrip – der Freiheitsorgasmus unserer Zeit. Hubi hat sogar eine grüne Umweltplakette, Greta wäre stolz. Ich blinzele meine Tränen weg, während ich mit dem Kopf im Motorraum hänge und versuche herauszufinden, woher das mysteriöse Klappern kommt. Es war immer mein Traum, ein Auto zu kaufen, einen kleinen alten Bus, den ich zum Camper umbauen und damit hinfahren kann, wo ich möchte. In meinen Träumen schreibe ich auf diesen Reisen Bücher, inspiriert von den Orten, an denen ich lebe. Ich habe Zeit dafür und ich bin nicht im Urlaub, sondern auf Reisen. Das ist für mich Freiheit. Oder der Traum von Freiheit. „Scheiße“, sage ich, als ich die Motorhaube zuknallen lasse. „Ich weiß auch nicht.“ Vor lauter Unzufriedenheit fahre ich rückwärts in einen Blumenkasten aus Backstein. Die ersten Beulen sind die schlimmsten. „Warum bist du so unzufrieden?“ Mein Freund schaut mich an. Ich zucke mit den Schultern. „Ich wollte wirklich nach Süditalien“, sage ich, und meine damit Neapel und Pompei, Bari und Calabria. „Aber Hubi sagt uns doch ganz deutlich, dass er das nicht möchte.“ Ich nicke. Und mir wird klar, dass auch ich unter dem Möglichkeitenreichtum leide.

Wenn man alles haben kann, dann ist es schwer, sich auf weniges zu konzentrieren. Es ist schwer sich festzulegen. Es ist schwer sich zu entscheiden. Wenn man alles möchte, dann hat man am Ende gar nichts. Gut Ding braucht Weil – ja, und Kraft, Energie und Commitment. Ich lerne gerade sehr viel. Während ich weinend auf einem Bordstein an einer Tankstelle in Italien sitze und mein Auto rückwärts gegen eine Backsteinwand fahre lerne ich, dass Entscheidungen nichts Schlimmes, sondern etwas Wundervolles sind und dass Zeit, genutzt, nicht vollgestopft werden will. Ich lerne Genügsamkeit. Ich lerne, dass Konsum bei Kultur nicht aufhört und dass es schwer ist, Muster zu durchbrechen. Und ich lerne nicht zum ersten Mal in diesem Leben, dass sich Pläne ändern. Wir fahren nicht nach Rom, um dann nach Neapel Richtung Süden weiterzufahren, wir fahren zum Hafen. Wir entscheiden uns, die nächste Fähre nach Sardinien zu nehmen, damit Hubi sich ausruhen kann – und wir auch. Wir entfliehen dem Möglichkeitenreichtum und verlegen unseren Roadtrip auf die Insel.

Manchmal muss man auch den Mut haben, klein zu denken.

Ich war nicht in Rom und nicht in Venedig, nicht in Mailand und nicht in Turin. Ich habe Pisa nicht gesehen und es nicht bis nach Bari geschafft. Und trotzdem habe ich in diesem Moment das Gefühl, meinem Traum sehr nah zu sein. Freiheit riecht nach Salzwasser und ist verliebt in die Sonne. Und vor allem ist Freiheit an keine Uhr und keinen Terminplaner gebunden.

Hubi klappert mittlerweile nicht mehr. „Wir hätten doch nach Süditalien fahren können“, sage ich gestern. „Alles passiert für einen Grund“, sagt mein Freund. Und ich weiß, dass er recht hat.

Schlagwörter: