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Seenotrettung

Ein Erfahrungsbericht


„Sieh es als Samen, den Du mitnimmst und einpflanzen kannst. Ein Samen, der Würde und Menschlichkeit bedeutet, der, wenn er gepflegt wird, die Gesellschaft verändern kann. Nicht abgestumpft durch die Welt zu gehen, sondern immer auch einen Gedanken, einen Blick und auch ein paar Worte für die übrig zu haben, die sonst ungehört bleiben.“

Heute ist Mittwoch. Ich sitze in meinem Container und lese die Mail, die mein Papa mir geschrieben hat, zum dritten Mal. Ich war frustriert die letzten Tage, weil ich krank bin, und weil schon die dritte Woche in Folge weder Frauen noch Kinder hier sind, um die wir uns kümmern können. In unserem Lager warten noch 543 Lebensmitteltüten und über 500 Gummistiefel, 200 Hygienetaschen und 50 Packungen Windel darauf, in den Zeltstädten verteilt zu werden. Wir können sie nicht verteilen, weil Ali morgen nach Indien fliegt und niemand von uns den Van fahren darf und Türkisch spricht. Es fühlt sich an, wie gefangen sein. Und nutzlos. Unerfüllte Erwartungen sind das Mantra, mit dem wir alle lernen müssen umzugehen. Jeden Tag aufs Neue wird mir vor Augen geführt, dass Flucht so viel langwieriger ist und so viel schwerfälliger, so viel frustrierender und erschöpfender, als ich es mir hätte vorstellen können. Ich versuche mich anzupassen, jeden Tag aufs Neue werde ich aus meiner Komfortzone geschupst, während ich die Verletzungen vom Vortag verarzten muss. „Es ist nicht leicht“, sagt Nina, wenn wir abends in unseren Schlafsäcken liegen und den Wind gegen die Containerwand peitschen hören. Ich lerne in radikalster Weise, wie es sich anfühlt, sich selbst zurückzunehmen und Zustände zu akzeptieren, die nicht zu ändern sind. Die Revolution fühlen zu müssen, ohne sie leben zu können. Die letzten Tage hatten wir im Camp nur gelegentlich Wasser. Die Wasserpumpe wurde repariert, ist wieder ausgefallen, immer wieder, wir haben uns mittlerweile daran gewöhnt, nicht duschen zu können. Vor zwei Tagen ist in ganz Cesme der Strom ausgefallen. Jeden Tag etwas Neues, denke ich, während ich versuche so wenig wie möglich zu trinken. Wir haben Steinmauern gebaut in den vergangenen Tagen, hunderte Steine getragen und zusammen zementiert, wir haben uns in das weite Feld der Permaculture eingearbeitet, um unsere Bäume bestmöglich über den Winter zu bringen. Wir haben ein wasserfestes Lager für Feuerholz gebaut und versuchen, das Dorf kälte- wind- und regensicher zu machen. Dabei kümmern wir uns um die Schafe und die Hühner und um die Kinder, die hier leben. Es ist ein Vollzeitjob, ohne Feierabend und Rückzugsort. Vor allem emotional ist das nicht leicht und wird nicht leichter. Ich habe immer noch Probleme, mich abzugrenzen. Ich leide mit, wenn ich mit Leid konfrontiert werde, ich bin dabei zu lernen, Mitleid in Mitgefühl zu transformieren, ich versuche gute Energie und Freude zu verteilen und nicht an den Zuständen zu verzweifeln, die politischer Natur sind und so viel folgenreicher, als ich dachte und größer, als mein Mikrokosmos zu verstehen vermag.

Schlafsäcke statt Schwimmwesten

Ich möchte über ein Ereignis berichten, dass ich immer noch nicht verarbeitet habe. Mit dem Wort Seenotrettung verbinden wir orangene Schwimmwesten, kleine Boote voller Menschen, hohe Wellen und tote Kinder. Vielleicht Carola Rakete und Diktatoren, die Rettungsboote nicht anlegen lassen wollen. Ich möchte nicht über Salvini sprechen, ich bin nicht auf Malta oder italienischem Festland. Aber ich kann mir vorstellen, dass sich Seenotrettung überall ähnlich abspielt. Am Sonntagabend haben wir zum ersten Mal, seit ich hier bin, einen solchen Anruf bekommen: 150 Menschen, vielleicht mehr, von der Gendarmerie auf der illegalen Überfahrt nach Griechenland erwischt und herausgezogen, Notfallhilfe, jetzt.

Folgend ein Gedankenprotokoll.

Sonntagabend, 19:30 Uhr

„Die haben ein Schiff rausgezogen“, ruft Carmen, als ich in der Dunkelheit die Stufen Richtung Aufenthaltsbereich herunterkomme. Ich habe ein Buch in der Hand und einen Apfel. Ich bin zum Telefonieren verabredet, ein ruhiger Abend. „Wie bitte?“ Ich weiß erst gar nicht, was sie meint. Wer ist die und welches Schiff? Ich versuche die Situation zu fassen, alles geht plötzlich ganz schnell. Auf dem Tisch stehen Teller mit Essen, halbvolle Gläser, eine qualmende Zigarette liegt auf dem Aschenbecher. Apokalyptisch. So fühlt es sich an. Ich stecke den Apfel in meine Jackentasche und spüre, wie das Adrenalin durch die Venen meines Körpers pumpt. Ich komme als Letze bei unserem Lagerhaus an. Eine Taschenlampensinfonie empfängt mich, „hier“, Nina drückt mir ihr Handy in die Hand. „Leuchte mal. Wir brauchen mindestens 150 Schlafsäcke.“ Marta liegt unter dem riesigen Metallregal, ihre Hose reißt, wir sind staubiger, als wir jemals waren, die Schlafsäcke sind in der untersten Ecke verstaut, „das ist schon lange nicht mehr passiert“, sagt Lucy. Ich habe so viele Fragen plötzlich. Gibt es Tote? Sind die Menschen noch am Strand? Wie viele Kinder sind dabei? Was brauchen die Menschen gerade am Meisten? Ich stehe zwischen Windeln und Rettungsdecken und Bohnen aus der Dose, Milch und Trinkwasser und habe keine Ahnung, was ich in den Van packen soll. Alle helfen, alle rennen. Schlafsäcke fliegen. „Schnell“, ruft Ezgi. Ich spüre den Apfel, wie er durch meine Tasche gegen den Bauch drückt, während ich Babywindeln in das Auto lade. Mir ist schlecht. Seit wann haben die Menschen nicht mehr gegessen? Cesme ist nur wenige Kilometer von der griechischen Insel Chios entfernt. Heute war ein sehr windstiller Tag, was hier nicht oft vorkommt. Geflüchtete wollen nach Chios, weil Griechenland Teil der Europäischen Union ist. Eine Erstregistrierung dort lässt sie Teil der Europäischen Union sein. Eine Registrierung in der Türkei nicht. Ali hat zerzauste Haare, als er die Türen des Vans schließt. Wir haben nur 100 Schlafsäcke. „We need five people“, sagt er ernst. Mehr könnte er nicht mitnehmen, die Gendarmerie würde möglicherweise Fragen stellen. Wir stehen zu acht vor dem Fahrzeug. Uns allen wird in diesem Moment klar, dass es nicht um uns geht. Dass Rettung und Erste Hilfe Sensationalismus nicht kennen darf. Alles einmal gesehen zu haben zählt nicht, wenn es um die Würde des Menschen geht. Es ist nicht ‚cool‘, aktive Seenotrettung zu betreiben, vielleicht spannend, aber vor allem wahnsinnig traurig und frustrierend und sehr, sehr belastend.

Wir sagen gar nichts, als wir Richtung Stadt fahren, Nina, Lucy, Franzi, Carmen und ich. Wir ziehen unsere Warnwesten an, streifen uns Professionalität und eine emotionale Schutzwand über, „wer emotional nicht stabil ist, bleibt bitte hier“, sagt Nina. Die Wasserkanister kippen in der Kurve um, Ali fährt viel zu schnell. Anstatt zum Strand fahren wir Richtung Innenstadt. Ein Polizist mit Maschinengewehr bewacht die Schranke, die einen riesigen Gebäudekomplex bewacht. Wir werden durchgewunken und befinden uns wenige Augenblicke später auf dem Gelände der Gendarmerie. Was sich dann vor unseren Augen abspielt, ist schrecklich. „Die Menschen könnten auch tot sein“, sagt Nina. Das relativiert die Situation nur bedingt, makaber als Diskurshoheit im Thema Flucht. Wir steigen aus dem Auto, ich verschränke die Arme. Wir befinden uns auf dem Gelände der Gendarmerie, einer Untereinheit der türkischen Polizei. Sie haben das Flüchtlingsboot aus dem Meer gezogen, die Menschen warten nun darauf, registriert zu werden, so wird uns gesagt. Aha. Es sind mehr Menschen, als erwartet. Die Gendarmerie spricht von 200, ich zähle schon über 50 Kinder, die meisten können gerade laufen. Die Menschen dürfen sich nicht frei bewegen, sondern sind in einem Basketballkäfig eingesperrt. Dünne Kinderfinger greifen durch die Gitter aus Stahl. Ich bin die einzige braunhaarige Freiwillige, die anderen Frauen sind blond. Wir sehen exotisch aus, auf türkischem Boden. Als die Menschen auf dem Feld uns erblicken, winken sie, rufen, starren. Ich muss mich umdrehen. Ich fühle mich so unwohl – ich will die Menschen nicht anschauen, wie Tiere. Ich muss mich daran erinnern, dass ich keine Hilfe bin, wenn ich wegschaue. „Sollen wir das Auto ausladen?“ Nina zuckt mit den Schultern. Die Stimmung ist angespannt. Wir schauen uns um. Es gibt einen Toilettencontainer außerhalb des Basketballplatzes. Zwei Toiletten für 200 Menschen. Ein paar Frauen sitzen auf dem Boden, ich frage mich, auf was sie warten. Eine schwangere Frau schwankt Richtung Toilette, fasst sich an den Bauch, stöhnt. „Wenigstens gibt es eine Toilette“, sagt Nina. Letztes Jahr konnte niemand auf Toilette gehen. Fäkalien überall. Ich sehe Ali, wild gestikulierend am Käfigzaun. Ein junger Mann mit Zopf redet aus der Mitte des Käfigs auf ihn ein. Jetzt starre ich. Irgendwann treffen sich unsere Blicke. Er ist jung, jünger als ich und schön. Später werde ich wissen, dass er aus Afghanistan kommt. Ich frage mich, wo er jetzt gerade ist, vor zwei Tagen habe ich von ihm geträumt. Ali kommt auf uns zu. Wir können keine Lebensmittel verteilen und keine Schlafsäcke. Die Situation sei zu angespannt. Zu viele Menschen von zu vielen verschiedenen Gruppen. Menschen aus Afghanistan, aus dem Irak, aus Syrien. Wir haben nicht genug für alle. Wir würden Kämpfe auslösen, die Anspannung sei zu groß, ungewollte Verteilungsungerechtigkeit würde den Frust katalysieren. Ich bin so wütend. In den Blicken der Menschen sehe ich, wie viel sie brauchen. Wir haben alles dabei, wir können ihnen nichts geben. Wir sind so ohnmächtig. Es fühlt sich an, wie vor einem vollen Teller zu sitzen und nicht essen zu können, obwohl der Hunger intrinsisch zerstört. Anstatt die Menschen zu versorgen fangen wir also an, Lebensmittel und Wasser und Schlafsäcke in das Warenhaus auf dem Gelände zu lagern. Das Warenhaus ist von einem großen Hilfswerk der EU gesponsert, dessen Namen ich an dieser Stelle nicht nennen möchte. Ich war schockiert von den Bedingungen. Mäuse überall, Babykatzen, aufgerissene Plastiktüten und zerfetzte Kartons. Die bereitgestellten Lebensmittel sind Kekse. Die Menschen werden mich später nach Brot fragen. Ich kann ihnen nichts geben, wir nehmen unser Essen wieder mit zurück, wir werden von der Gendarmerie gezwungen, es würde Nahrung geben. Kekse sind keine Nahrung. Ich bin so frustriert, als ich all die Schlafsäcke in das Chaos schmeiße. Wann werden die verteilt? Ich schaue die jungen Beamten der Gendarmerie an. Der Schwarzhaarige grinst, zuckt mit den Schultern, nicht einmal ‚no english‘ kann er sagen. Eine Frau, sie muss aus der Toilettenschlange gekommen sein, klettert über ein Gebäudedach in unsere Richtung. Lucy beugt sich zu ihr, ihr Rücken versteckt die Frau, ich habe Angst vor all den Waffen, die die Gendarmerie mit sich herumträgt. Sie brauche Windeln, dringend, sagt sie. Lucy streichelt ihr über den Arm und nickt. Jetzt müsse sie aber schnell zurück gehen, sonst wird es gefährlich. Sie nickt. Ali ist wütend, seine Wut strahlt, <strong>wir sind alle wütend, weil wir nicht helfen können, obwohl wir könnten.

Windeln, sagt er nach einer langen Diskussion. Schnell. Wir hören Kinder weinen. Mir werden vier Kartons gleichzeitig in die Hand gedrückt. Wir tragen also Kartons und Kartons und Kartons Richtung Basketballplatz, holen Binden heraus und Toilettenpapier, schauen uns gegenseitig an, und betreten dann den Käfig, dessen Stäbe vor lauter Spannung zu brechen drohen. Mein Herz schlägt so schnell, mein Adrenalin dämpft meine Überforderung, ich spüre, dass ich jetzt funktionieren muss.

„Abla, abla“, ein Kerl zieht an meinem Schal. Seine Augen sind riesig, ich könnte in diesen Augen versinken. Er sagt etwas auf türkisch, oder ist es arabisch? Ich schüttele den Kopf, versuche zu lächeln, ich kann nicht. Ich bin eine Fratze, ich fühle mich wie eine Fratze, wie ich vor dem hungrigen jungen Mann stehe, mit Damenbinden in der Hand. Es tut mir so leid, will ich sagen. Und damit meine ich alles. Dass er nicht in Griechenland angekommen ist. Und dass er Hunger hat. Und dass er auf dem Boden schlafen muss, mit 200 anderen Menschen. Dass ich den Käfig verlassen kann, und er nicht. Wir schauen uns lange an, ich schaffe es zu lächeln, er lächelt zurück, dann reißt mir eine Frau die Binden aus der Hand. Bei jedem Mal, das der Polizist mir die Käfigtür öffnet, werde ich selbstbewusster. Ich presse Windeln und Toilettenpapier fest an mich, meine Wut hat sich in selbstsichere Entschlossenheit verwandelt. Ich kann nichts tun, außer gerecht verteilen, das ist jetzt meine Aufgabe, damit kann ich den Menschen am meisten helfen. Ich laufe also an den Rand des Feldes. Familien kauern in den Ecken, versuchen sich vor dem Wind zu schützen, liegen dicht nebeneinander, viele haben die Augen geschlossen, schauen mich nicht einmal an, wenn ich mich neben sie hocke. Ich bin schockiert über die vielen Kinder. Ein Neugeborenes liegt auf dem Schoß einer Frau, die aussieht wie ein Kind. Ich sehe die Kulturunterschiede optisch, ich kann sie spüren. Ich lächele, während ich verteile, was ich habe. Ich trete in eine Pfütze. Urin, denke ich, weil ich nirgendwo Trinkwasser sehe. Was passiert nur mit euch. Ich möchte mich auf den Boden setzen, zwischen all die Menschen und Präsenz zeigen, wenn ich schon niemanden mitnehmen kann. „Come“, ruft Ali. Er ist so weit weg gerade. Ich habe für einen kurzen Moment vergessen, dass ich gehen muss. Ich frage nach den Schlafsäcken. Wann werden die verteilt? Die Menschen frieren. Niemand antwortet mir. Als wir ins Auto steigen sagt keiner etwas. Wir verlassen das Gelände, der Polizist mit dem Maschinengewehr nickt uns zu, als er die Schranke hochfahren lässt. Wir lassen 200 Menschen zurück, deren Zukunft unklar ist. Das sind die Menschen, die wir in ein paar Wochen in einem der unzähligen Zeltlager vorfinden werden. „It makes me so angry“, sagt Ali und stottert. Wir sind alle wütend. Wir sind wütend, weil wir weniger tun, als wir eigentlich könnten, weil uns die Strukturen die Hände binden und uns ohnmächtig machen, in einem Feld, indem es fast ausschließlich um Macht geht. Je mehr Macht wenige Menschen haben, umso ohnmächtiger sind Viele. Wie kann es sein, dass Menschen gehalten werden, wie Tiere, wenn die Würde des Menschen unantastbar ist? Wie kann es sein, dass Menschen behandelt werden, als wären sie eine Masse identitätsloser Ameisen, wenn alle Menschen gleich sind? Ich spüre immer deutlicher, dass wir es nicht sind. „Wir müssen blind sein, wenn wir nicht jeden Tag sehen, wie gut es uns geht“, sagt Marta. Wir alle nicken. Am nächsten Morgen werden wir uns alle erzählen, schlecht geschlafen zu haben. Ich denke immer noch an den jungen Afghanen mit Zopf und ich frage mich, ob ich ihm in den nächsten Wochen in einem Zeltlager begegne. Oder ob er schon wieder auf dem Weg ist. Vielleicht dieses Mal über die Balkanroute.