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Stillstand

Selbstoptimierungsklatsche an die Gen Y


Ich schreibe Listen. Ich schreibe Listen und Listen und Listen: Von Büchern, die ich jetzt lesen könnte, von Filmen, die ich gucken muss, Sachen, die sortiert werden wollen. Ich mache eine Aufzählung: ‚Das Gute am Coronavirus‘, und hänge sie an meinen Spiegel, auf dem mit Lippenstift eine Hasstirade an Sars-CoV-2 steht. Ich hasse dich du Arschloch, du zerstörst mir meine Zukunft. Daneben hängt eine Liste von Produkten, die ich herstellen kann. Glutenfreies Brot, Seife ohne Mikroplastik, Marihuanapflanzengewächshaus, um nur einige Beispiele zu nennen. In meinem Listenwahn denke ich nicht einmal darüber nach, was mir jetzt guttun würde. Ein Spaziergang vielleicht, oder eine Serie. Ein bisschen Stumpfsinn und Leichtigkeit in dieser merkwürdigen Zeit. Die Corona-Blase wächst wie ein Luftballon, der nicht mit Helium, sondern mit Infektion und Angst über das globale Dorf der Weltgemeinschaft fliegt. Kapitän Sars-CoV-2 setzt seine Reise fort, dabei zieht er ein graues Misstrauens-Netz hinter sich her, das Bewegungs- und Handlungsfreiheit unter sich vergräbt. Homeoffice und Corona-Ferien berauben Menschen ihrer Strukturen. Die Ausnahmesituation durchwandert den Alltag und bricht dabei mit zahlreichen Gewohnheiten. Corona kennt keine Routine und die sich täglich ändernde Situation fordert eine Offenheit gegenüber der Unsicherheit. Hubertus Koch, mein Evergreen-Journalisten-Schwarm lässt seine Instagram-Community dabei teilhaben, wie er genüsslich sein Käsebrot isst und uns alle zu unterhalten versucht: sich online nah sein, während wir uns offline aus dem Weg gehen müssen. „Wenn mein Opa das miterleben würde. Acht Jahre in Russland gefangen. Wir müssen mal zwei Wochen zu Hause bleiben, das geht doch wirklich klar.“ Ja Hubi, das geht klar. Aber nur schwer. Wir sind im Couch-Krieg. Eine ganze Generation ist im Krieg – nicht gegen das Virus, sondern gegen sich selbst. Wie komme ich mit einer Situation klar, die es so noch nie gegeben hat: Die mir meine eigene Begrenztheit vor Augen führt und mich fremdgesteuert limitiert, während ich mit der Auffassung aufgewachsen bin, dass mir die Welt gehört?

Ja, wir sind begrenzt.

So geht es mir auf jeden Fall. „Mach“, sagen meine Eltern immer, wenn ich meine absurden Lebenskonzepte vorstelle. Wir wachsen in einer Blase auf, die Allmächtigkeit suggeriert. Dir gehört die Welt. Wer hat das noch nicht gehört? Corona macht uns klar, dass das nicht so ist. Und das ist schmerzhaft. Uns allen wird gerade etwas sehr Wertvolles genommen: Die Vorstellung von unserer unbegrenzten Macht bezogen auf den persönlichen Determinismus. Wir können unser Leben so gestalten, wie wir das möchten, weil wir grenzenlos frei sind. Sars-CoV-2 fällt in diesem Moment lachend von der Türklinke. Die Zahl der Infektionen steigt ins Grenzenlose, und Grenzen sind plötzlich wieder ein Ding in unserem Kopf. Corona lässt uns Begrenztheit spüren. Corona agiert stellvertretend und nimmt sich zurück, was niemandem gehört: Die Welt. Ich kann damit immer noch nicht umgehen, auch wenn die Auswirkungen der Krise schon seit ein paar Tagen spürbar sind. Ich wollte in einem Monat eigentlich nach Afrika fliegen: Ein Praktikum im ZDF-Auslandsstudio in Kenia machen und beim Auswärtigen Amt in Pretoria. Wohnung und Stipendium warten auf mich, die Flüge sind bezahlt. Und dann kam Corona. Ich habe viel geweint in den letzten Tagen, weil ich den Frust und die Ohnmachtsgefühle nicht anders abbauen kann. Heute ist es besser. Ich muss mich selbst immer wieder daran erinnern, dann es uns allen so geht. Es ist ein großes ‚Uns‘, was Corona schafft. Das Uns umfasst plötzlich die Weltgemeinschaft. Wir, gegen Corona. Und nicht gegeneinander. Das ist ein schönes Gefühl. Menschlichkeit wird plötzlich spürbar. Und dass wir alle gleich sind. Erste Infektionsfälle aus Flüchtlingsheimen werden bekannt. Gleichzeitig infiziert sich Millionär und Kanzlerkandidatsanwärter Friedrich Merz. Corona macht vor niemandem Halt, weil wir im Kern alle gleich sind: Einfach nur Menschen.

Ich muss mir jetzt einen neuen Plan für die kommenden Monate überlegen. Ich habe Geld verloren und es fühlt sich an, als nähme mir das Virus meine Zukunft. So ist das aber nicht. Es verändert sie einfach nur. Und ich glaube, dass ist das wahrhaft Gute an dieser Pandemie: Nicht die Möglichkeit, die Dinge zu tun, die man nie getan hat und auch jetzt nicht tun wird, wie Keller ausmisten oder die Bibel lesen, weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist. Sondern die Tatsache, dass Corona uns aus der Optimierungsfalle zwingt. Es bittet uns nicht, es schupst uns heraus. Und tritt noch einmal zu. Warum ist es uns so wichtig, ständig produktiv zu sein? Warum ist Produktivität ein zu erreichendes Ziel? Warum leben wir nach to-do-Listen, deren flächendeckendes Abhaken uns mehr Befriedigung schenkt, als ein Orgasmus? Was ist Produktivität überhaupt? Und muss sie immer aktiv sein?

Können wir still stehen?

Ich stelle mir in diesen Tagen der gezwungenen Selbstreflektion viele Fragen. Ich habe wohl auch ein Selbstoptimierungs- und Produktivitätsproblem. Wenn ich meinen Selbstwert nicht von sozialer Interaktion abhängig machen kann, dann bitte schön indem ich etwas Sinnvolles tue. Produktivität ist das Narrativ einer Gesellschaft, die zwanzig Semester Germanistik studiert. Das ist doch komisch, oder? Wann haben wir verlernt, mit weniger zufrieden zu sein? Wir sind ein hypokritisches Volk. Wir wollen das Klima retten und wir fliegen Kurzstrecke. Wir glauben an die große Liebe und züchten uns Herpes bei Tinder. Wir sprechen von den kleinen Dingen und meinen damit die Welt. Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einkehr. Wir laufen rückwärts, irgendwie, so fühlt es sich an. Wir schweben plötzlich alle und es riecht nach Beschränktheit, nicht nach Freiheit. Wir sind fremdgesteuert und müssen uns anpassen. Unser Egoismus und unser eurozentrisches Weltbild werden herausgefordert – können wir uns selbst zurücknehmen und somit helfen, das Virus einzudämmen um das Gesundheitssystem zu entlasten? Können wir verzichten? Können wir stillstehen?

An dieser Stelle möchte ich sagen, dass Stillstand nichts Negatives ist. Dass Stillstand nichts mit Versagen zu tun hat. Das denken wir nur, weil das System krankt und sich Kapitalismus immer für Wachstum und nicht für Widerstand entscheidet. Wir wollen Teil des Systems sein, unsere Produktivität scheint unsere Funktionsfähigkeit zu bestimmen. So ist das aber nicht. In diesen Zeiten können wir lernen, endlich wieder still zu stehen. Mit einem guten Gewissen. Wenn sich das Gehirn ein bisschen entspannen kann, dann sind die Sinne viel geschärfter, so scheint es mir. Ich war heute im Wald – ich war schon ewig nicht mehr im Wald – und habe Bäume gerochen. Und ganz viele Menschen gesehen, die auch die Ruhe des Waldes gesucht haben, um innere Ruhe zu finden. Oder noch ein paar Schneeglöckchen-Ableger, oder, oder. Es ist eine Zeit des Umschwungs. Wir sind keine Tiere, wir können unser Verhalten anpassen und neu lernen, mit Unsicherheit umzugehen. Wenn ich so darüber nachdenke finde ich das eigentlich sehr aufregend. Wie viele wunderbare Dinge können uns passieren, wenn wir offen für Zufälle sind – weil uns nichts anderes übrig bleibt?

Bleibt gesund People. Und veranstaltet keine Corona-Partys. Nach dem Entzug ist das high viel krasser. Und weniger Betäubung ist mehr Betäubung. Habt euch lieb und geht für Omi einkaufen. Peace.

Foto: Unsplash

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