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Und danach die Einsamkeit

Zwischen Rave und Risiko


Die Tage werden kürzer und es regnet viel. Es ist draußen so ungemütlich, dass man es sich drinnen umso schöner wünscht. Mit Lichterketten und leckerem Essen, mit Kerzen, Wein und den Liebsten. Die Liebsten. In Zeiten einer weltweiten Pandemie können diese zum größten Problem werden. Wenn sie über 65 sind zum Beispiel. Oder eine angeborene Lungenkrankheit haben. Ein schwaches Immunsystem, oder einfach Pech. Schütze, was du liebst, klingt mehr nach dem Titel eines Kriminalromans, als nach einer politischen Richtungsweisung. Das hat sich in diesem März verändert. Wir hören oft, dass die Welt so wie wir sie kennen nicht wiederkommt. Weil wir uns vor Ungewissheit fürchten, schützen wir uns mit Erinnerungsmandalas, während wir Familienfeiern und Reisen auf das kommende Jahr verschieben. Wird schon. Das denken wir, bis wir nachmittags alleine in der Wohnung sitzen und die Tapete anstarren. „Ich hab Angst vorm Winter“, habe ich noch nie so oft gehört, wie in diesen Tagen. Der aktuelle Spiegel philosophiert über einen zweiten Lockdown und ich frage mich, warum Wenige Viele gefährden. Und die deutsche Volkswirtschaft für die nächsten Jahrzehnte dazu. Es ist zu leicht gesagt, dass die junge Generation nicht auf Partys verzichten kann und ignorant ihre Freiheit lebt, die früher oder später allen die Freiheit nehmen wird. Es ist auch zu leicht gesagt, dass den Jungen eine mögliche Infektion egal ist, weil sich der Krankheitsverlauf zum Großteil milde verhält. Auch die junge Generation hat Großeltern. Ich liebe meine Oma. Und ich war am Wochenende trotzdem in einer Bar. Mit Hygienekonzept, jaja. Wir sind gut im Magical Thinking und wir sind gut darin uns einzureden, dass alles schon nicht so schlimm kommen wird – um unsere Freunde sehen zu können und ein Stück Fake-Normalität zu konservieren. Aber was steckt hinter dieser chronischen Flucht in Geselligkeit?

Die lähmende Einsamkeit

Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung sind in Deutschland 42% aller Haushalte Ein-Personenhaushalte, Tendenz steigend. Gleichzeitig sinkt das gesamtdeutsche Empfinden von Einsamkeit. Außer bei den Menschen zwischen 18 und 30 Jahren. Also die von der Politik gefürchteten potentiellen Covid-Superspreader, die Raver, die Generation Y, ich, wahrscheinlich du. Vielleicht kommt unser Bedürfnis nach Tanzen und Trinken, Gemeinschaft und Gruppendynamik aus einem Gefühl latent-chronischer Einsamkeit, das wir in Gesellschaft betäuben können.

Haben wir ein strukturelles Einsamkeits-Problem? Wir müssen uns das als junge Generation fragen, weil dieser Winter anders werden wird. Menschen tanzen nicht gerne in Winterjacke und private Raves dürfen keine Alternative sein. Wenn wir mit Opa an Heilig Abend Rotkohl essen wollen, dann müssen wir uns im Alleinsein üben, ohne uns von der Einsamkeit betäuben zu lassen. Das klingt plakativ – ist aber so. Alleine sein ist weder uncool noch langweilig – es ist wichtig, um sich neu zu fokussieren und sich auszuruhen, von einer Welt, die so schnell und laut redet, dass man Schwierigkeiten hat mitzukommen. Alleine sein ist Runterkommen und Verarbeiten, Energie sammeln und Träumen, Kontakt mit Menschen halten, die nur übers Telefon zu erreichen sind, Selbstreflektion und Phantasie.

Ein einsamer Mensch knallt jetzt wahrscheinlich seinen Laptop zu und fühlt sich verarscht. Utopisches Alleinsein, wird er sagen und die Autorin dieses Textes, mich, im Gegenzug und durch den Bildschirm fragen, ob sie sich schon einmal so richtig einsam gefühlt hat. So einsam, dass der Kopf ganz benebelt ist von dem Gefühl der Leere. So einsam, dass sich alles taub anfühlt, sogar die kalten Hände. So einsam, dass man das Gefühl hat, von niemandem vermisst oder geliebt zu werden. So einsam, dass man unfähig ist, aktiv zu sein, weil sich alles trivial anfühlt. Ja, so habe ich mich schon gefühlt. So fühle ich mich immer mal wieder. Und ich glaube viele Menschen kennen das Gefühl, nichts mit sich selbst anfangen zu können. Das ist so normal wie schade. Aber sobald wir das erkannt haben, können wir uns gegen die Einsamkeit stellen und sie irgendwann in positive und produktive Me-Time verwandeln. Warum ich das weiß, lieber wütender Einsamer? Weil ich es selbst praktiziere. Und weil es funktioniert, wenn man sich selbst eine Chance gibt.

Wenn Selbstmitleid und der Vergleich mit dem spaßigen Leben der Anderen auf Instagram keine Lösung für glückliches Alleinesein ist, dann sollten wir uns darin üben, selbstzerstörerische Aktivitäten einzustellen und stattdessen mit etwas zu beginnen, das uns Freude macht. Manchmal ist diese Frage schon eine große Herausforderung. Weil wir nie alleine sind wissen wir gar nicht, was uns, und nur uns, gerade guttut. Ich finde die Vorstellung eigentlich sehr aufregend, dass wir uns selbst ganz neu und viel ganzheitlicher kennenlernen (und erfinden) können, wenn wir gezwungen sind, Zeit mit uns selbst zu verbringen. Ich habe zum Beispiel gelernt, dass ich mich durchaus behandeln darf, wie meine beste Freundin. Ich darf auch für mich alleine lecker kochen und ich darf auch für mich eine Kerze anmachen. Ich kann endlich das Buch lesen, was ganz unten in dem Stapel der ungelesenen Bücher neben meinem Bett klemmt und ich kann eine Doku über den Mond gucken. Weil – warum nicht?

Aktiv zu sein bedeutet nicht, in einem einzigen Winter arabisch zu lernen oder ein Musical zu komponieren. Aktiv sein beginnt im Kopf. Und in kleinen Schritten. Sich selbst zu erlauben, es sich gut gehen zu lassen, ist wohl das größte Geschenk, was man sich geben kann: Sich nicht nur in rauchigen Kneipen mit einem Bier zu belohnen, sondern mit einer Badewanne, die nach Lavendel riecht, oder einer albernen Gesichtsmaske, oder einem Harry-Potter-Marathon.

Die aktuelle Situation wird nicht für immer dauern. Wir werden nicht für immer jede gesellschaftliche Zusammenkunft moralisch abwiegen müssen und wir werden auch wieder unbeschwert tanzen und knutschen gehen können. Wir wissen alle was jetzt zu tun ist und wir sind alle mehr, als verbotene Raver. Wir dürfen uns trauen, Zeit mit uns selbst zu verbringen. Wir dürfen uns trauen, Einsamkeit zu spüren und wir dürfen mutig und selbstbewusst dieser Einsamkeit entgegensteuern. Weil wir letztendlich die einzige Person sind, mit der wir den Rest unseres Lebens verbringen müssen– wäre doch toll, wenn wir diese Zeit auch genießen. Und uns, wenn wir das gerade nicht können, daran erinnern, dass es sehr vielen anderen Menschen sehr ähnlich geht. Das Jugendwort dieses Jahres ist übrigens ‚lost‘.

Foto: unsplash

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