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Vergessene Randgruppen

Obdachlos in Corona-Zeiten


„Irgendwie rot und blau mit Pinöpeln. Aber das ist so klein, das kann man gar nicht sehen.“ Ich telefoniere mit meinem elf Jahre alten Cousin. Er wohnt in Nordrhein-Westfalen. Entweder willst du Kanzler werden, oder hast Corona, so schwimmt das Bundesland aktuell durch die Medienflut. „Ich finde es kacke, dass wir jetzt kein Physik haben. Wir haben gerade einen neuen Stundenplan bekommen. Und jetzt schließt die Schule.“ Fußballtraining habe er auch nicht mehr, sagt er. Mein kleiner Cousin ist Torwart. Ich frage ihn, ob er Angst vor dem Virus hat. „Nö“, sagt er so laut und klar, wie es nur Kinder können. „Meiner Familie kann ja nichts passieren, wir sind jung.“ Ich höre ihn denken. „Aber um Oma und Opa mache ich mir schon Sorgen.“

Und was sagt Oma?

Wir legen auf, ich kann mir ein ‚immer schön die Hände waschen‘ nicht verkneifen und merke, dass die Corona-Blase wächst. Wie ein Luftballon, der nicht mit Helium, sondern mit Infektion und Angst über das globale Dorf der Weltgemeinschaft fliegt. Kapitän Sars-CoV-2 setzt seine Reise fort, dabei zieht er ein graues Misstrauens-Netz hinter sich her, das Bewegungs- und Handlungsfreiheit unter sich vergräbt. Heute ist Freitag, der 20. März 2020. Die Zahl der gemeldeten Coronavirus-Infektionen hat laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) inzwischen 245.000 überschritten, über 10.000 Todesfälle sind zu beklagen. In 160 Ländern und Gebieten wurden Infektionen registriert. In Deutschland sind über 15.000 Fälle bestätigt – mit wem kann ich mich eigentlich noch treffen? Unser Misstrauen gegenüber unserem Umfeld ist ein Selbstschutz und ein Spiegel des Misstrauens gegenüber der Funktionsfähigkeit des Systems. Ich rufe meine Oma an. Sie ist 82 Jahre alt und gehört damit zur Risikogruppe. Sie ist die Person, um die sich mein Cousin Sorgen macht, um die ich mir Sorgen mache und die von Medien und Gesellschaft als Erklärung für soziale Isolation herangezogen wird. Schützt die Alten. Ihr gehe es gut, erzählt sie, nein, sie fühle sich nicht eingeschränkt, ja, sie gehe nicht zu den Stoßzeiten einkaufen, aber das tue sie sowieso nie. „Hast du Angst, Oma?“ Sie lacht herzlich ins Telefon. „Ich hab die Kriegszeit erlebt, als wir geflüchtet sind. Da hatte ich Angst.“ Sie erzählt, dass ihre Freundinnen zum Großteil „cool mit der Situation“ umgehen, aber bei den Jüngeren, da erlebe sie Panik. „Jetzt wird uns bewusst, dass es uns nicht immer so gut gehen kann und wir uns auf schlechte Zeiten einrichten müssen. Das ist für euch etwas Neues.“ Da hast du Recht, Oma. Wir – Bezugsrahmen: Deutschlands Handlungsfähigkeit als Sozialstaat – können uns darauf einrichten, weil man in den Guten immer ein Puffer für die schlechten Zeiten sammelt. Wir können aus einem Becken von Versorgungssicherheiten und medizinischer Expertise schöpfen – die Finanzspritze füllt sich selbst eine Flasche ab. Aber was ist mit den Ländern, in denen das Becken schon vor Corona leer war? Und was ist mit den Menschen, die von dem Cocktail aus Sicherheit und Schutz in Krisenzeiten nichts abbekommen?

Häusliche Isolation ohne zu Hause

„Rufen Sie bei einem Infektionsverdacht zuerst Ihre zuständige Gesundheitsbehörde an.“ Das sagt die Krisen-Hotline. Dann bekommt man ein Testcenter zugewiesen und darf stundenlang im Seuchengebiet durch den Mund einatmen, vor einem Schal. Der regionale Bahnverkehr ist von vergangenem Dienstag an eingeschränkt. Kein Auto, kein Test. Und was ist mit den Menschen, die nicht einmal ein Telefon besitzen, um das Gesundheitsamt anzurufen? Oder die zu betäubt sind, um ihre Symptome zu spüren? Corona kennt weder sozialen Status noch gesellschaftlichen Einfluss, Corona unterscheidet nicht zwischen Promi und Politiker und das persönliche Vermögen wirkt nicht desinfizierend. Vor Corona sind wir alle gleich, heißt es. So ist das aber nicht. Man muss nicht über den Pazifik, in die Vereinigten Staaten schauen, in die Gesichter von rund 28 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung, die dem Virus ausgeliefert sind und nur hoffen können, dass die Krankheit milde verläuft. Das Gesundheitssystem in Deutschland ist gut, eines der besten auf der Welt, wie die Bundeskanzlerin in ihrer Ansprache vor wenigen Tagen beruhigend mitteilte. Aber das Gesundheitsnetz ist auch in Deutschland durchlässig: Obdachlose Menschen fallen durch das Corona-Maßnahmen-Raster. Gegen Kälte und Hunger hilft kein Desinfektionsmittel. Obdachlose Menschen sind in der Aufzählung der Risikogruppen des Bundesgesundheitsamtes nicht aufgelistet. Das finde ich falsch. Vielleicht ist ihr biologisches Alter nicht risikogruppenreif – das Körperliche ist es zum Großteil schon. Obdachlose Menschen sind oft immunsystemgeschwächt und haben Vorerkrankungen. Viele haben außerdem keine Krankenversicherung und gehen deshalb bei Beschwerden nicht zum Arzt. Wie sollen Obdachlose zu Hause bleiben, wenn sie kein zu Hause haben? Vor wenigen Tagen berichtete das Hamburger Winternotprogramm von einem positiven Fall in einer Notunterkunft. 300 Menschen zählen nun zu der Gruppe ‚Kontaktperson 1‘. Diese Menschen werden in diesem Moment häuslich isoliert. In diesem Fall ist das infrastrukturell möglich. Wie die Menschen zwei Wochen Quarantäne aushalten sollen, kann ich mir nicht vorstellen. Die Zahl der Wohnungslosen überschreitet in Deutschland deutlich eine halbe Million. Es macht mich wütend, dass diese Menschen vergessen werden, obwohl sie mit am gefährdetsten sind. Als hätte ihr sozialer Status sie ausgeklammert, allen kann man nun wirklich nicht helfen, Überlastung und so.

Ein weiteres Problem, mit dem auch Corona-freie Obdachlose konfrontiert sind, ist die Kollektiv-Infektion der Gesellschaft. Menschen begeben sich in Selbstquarantäne, die Straßen sind so leer wie die Supermarktregale, kaum einer geht mehr aus dem Haus. Das ist gut, und das ist wichtig, um die Pandemie einzudämmen und das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Wenn der Frühling die Menschen doch aus ihrer Quarantäne lockt, dann für einen Spaziergang im Grünen, die Innenstadt ist zu einem Minenfeld mutiert, im Corona-Krieg. Obdachlose Menschen sitzen nicht am Wegesrand und schauen Weidekätzchen beim Blühen zu. Das Terrain von Obdachlosigkeit ist im Strom von Menschenmassen, von potenziellen Geldgebern. Die fallen weg. Wertschöpfungsketten sind Infektionsketten, ökonomisch ist die Krise nicht nur für Unternehmen, Selbstständige und Künstler eine Katastrophe, sondern auch für Menschen auf der Straße. Kurzarbeitergeld für Obdachlose? Scholz fällt in diesem Moment lachend vom Stuhl. Für obdachlose Menschen sind diese Tage doppelt hart, und sie werden noch härter, weil niemand weiß, wie sich die Pandemie entwickelt.

Keine Registrierung, kein Arztbesuch, kein Test, Willkommen im Coronaland

Es sind aber nicht nur die Obdachlosen. Auch für Geflüchtete kann die weitere Verbreitung des Virus zu einem großen Problem werden. In einem Ankunftszentrum in Heidelberg wurden vergangenen Freitag fünf Infektionsfälle gemeldet. Häusliche Isolation, aber mit 1000 Anderen. Wird Einzelisolation zu einem Gruppenprojekt, wenn nicht genug Abstand gehalten werden kann? Hier haben die Menschen wenigstens Zugang zu Wasser und Hygiene. In den überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln zum Beispiel ist das ganz anders. Bisher sind noch keine Fälle bekannt – das muss aber auch in Relation zu dem allgemein schlechten Gesundheitszustand gesehen werden. Lässt man sich auf Corona testen, wenn man sich krank fühlt, wenn man sich sowieso immer krank fühlt? Und ein bisschen Corona ist im Verhältnis zu Krätze und dem IS wohl auszuhalten. Gibt es überhaupt Tests in Regionen, in denen Lebensmittel schon knapp sind? Das alles ist aus zweierlei Hinsicht gefährlich. Überfüllte Lager sind ein idealer Nährboden für eine schnelle Verbreitung des Virus. Die Menschen sind eine Risikogruppe, weil sie, ebenso wie die Obdachlosen, kaum Zugang zu Hygieneartikeln und einer medizinischen Versorgung haben. Keine Registrierung, kein Arztbesuch, kein Test, Willkommen im Coronaland. Außerdem besteht die Gefahr eines politischen Machtmissbrauchs. Der Flüchtling als Sündenbock, instrumentalisiert als wandelnder Virus – wenn wir ‚die‘ aufnehmen, dann verbreitet sich die Seuche noch mehr. Und plötzlich weiß man gar nicht mehr, welche Seuche gemeint ist.

Ich bin frustriert während ich diesen Text schreibe. Ich fühle mich alleine, während ich Sonnenstrahlen durch die kahlen Bäume blitzen sehe. Ich wünsche mir Gemeinschaft und ich will, dass alles so ist, wie es war. Vielleicht hat Oma recht. Vielleicht wissen wir ‚jungen Leute‘, so wie die Älteren uns gerne nennen, gar nicht mehr, was ein Leben außerhalb von Saus und Braus im Bedürfnisbefriedigungssinn, ist. Corona entschleunigt die ganze Welt. Ich kann damit sehr schlecht umgehen. Zum ersten Mal muss ich mich mit meiner inneren Unruhe auseinandersetzen, die wohl Symptom des Narrativs Schneller-besser-weiter ist. Ich muss mich gedulden und ich muss lernen, Langeweile nicht mit sinnlosem Aktionismus zu betäuben. Sondern einfach mal zu sein. „Uns geht’s wirklich gut hier“, ist keine Floskel mehr, das spüre ich gerade sehr deutlich. Corona ist ein Virus. Nicht mehr und nicht weniger. Wir als Gemeinschaft, als Deutschland und als globalisierte Welt, werden das überwinden. Flucht und Obdachlosigkeit überdauern Pandemien. Das ist ein Problem. Gestern und heute und übermorgen. Mit, und ohne Corona.

Foto: Unsplash